Joseph Blatter: „Ein Irrtum, die WM nach Katar zu vergeben“
Joseph Blatter: „Ein Irrtum, die WM nach Katar zu vergeben“
(sid) – Joseph Blatter war FIFA-Präsident, als die Fußball-Weltmeisterschaft im Jahr 2010 nach Katar vergeben wurde. Im Interview spricht der einst so einflussreiche Funktionär über eigene Fehler bei der Vergabe, ein System der Korruption und seine Forderungen an Nachfolger Gianni Infantino.
Joseph Blatter, in wenigen Tagen beginnt die umstrittene WM in Katar. Wieso wurde das Turnier aus Ihrer Sicht an das Wüstenemirat vergeben?
Wir hatten einen Konsens im FIFA-Exekutivkomitee zur Vergabe von zwei Weltmeisterschaften am selben Tag. Wir haben versucht, Russland und die USA zusammenzubringen. Aber es ist etwas passiert, eine Woche vor diesem 2. Dezember. Michel Platini hat angerufen und gesagt, dass es so nicht gehen wird. Er meinte, dass er eingeladen worden sei, um mit dem damaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy und dem Kronprinzen und jetzigen Emir von Katar zusammenzukommen.
Sarkozy habe ihm empfohlen, dass er und seine Leute für Katar stimmen sollten. Die Quintessenz war, dass ich nicht mehr auf vier Stimmen aus Europa für die USA zählen konnte. Wären die vier Stimmen an die USA gegangen, hätten die USA die WM bekommen – und nicht Katar. Das ist die Wahrheit, davon werde ich nicht abrücken.
Korruption ist eine allgemeine Erscheinung in unserer Gesellschaft – und lässt sich nicht auf den Fußball reduzieren.
Joseph Blatter
Bis heute wird das Turnier von Korruptionsvorwürfen begleitet. Was haben Sie rund um die Vergabe am 2. Dezember 2010 von katarischer Einflussnahme auf finanzieller Ebene mitbekommen?
Ich habe mich nicht darum gekümmert, ob jemand links oder rechts beeinflusst worden ist. Ich hatte mit dem Exekutivkomitee diesen Konsens – und habe dann verloren. Aber später habe ich erfahren, dass noch andere Kräfte am Werk waren.
Von welchen Kräften sprechen Sie?
Die Katarer haben keine Geschenke an Wahlmänner gemacht – sondern an deren Heimatländer. Dann sprach man immer von Geld – doch vom Geld weiß ich nichts.
Sie waren damals Präsident. Welche Verantwortung sehen Sie bei sich für ein System, das ganz offensichtlich Korruption ermöglicht hat?
Korruption ist eine allgemeine Erscheinung in unserer Gesellschaft – und lässt sich nicht auf den Fußball reduzieren. Meiner Ansicht nach war es einfach ein Irrtum, die WM nach Katar zu vergeben. Für mich war das Land einfach zu klein, es ist so groß wie ein Kanton hier in der Schweiz. Das erste Problem, das aufgetaucht ist, war dann das Klima.
Viele stellen sich die Frage, wieso die Bewerbung überhaupt zugelassen wurde. Haben Themen wie Menschenrechte oder der Klimaaspekt keine Rolle gespielt?
Menschenrechte zu Beginn nicht. Aber dann haben wir gesehen, dass etwas schiefgelaufen ist. Als Folge haben wir im Exekutivkomitee beschlossen, dass wir im Anforderungskatalog für eine WM ein neues Kapitel mit den sozial-kulturellen Verhältnissen einbauen müssen. Für die Vergabe am 2. Dezember 2010 war es zu spät, aber jetzt ist es Bestandteil des Kandidatur-Reglements.
Ich leide noch heute darunter, dass es mir nicht gelungen ist, an diesem 2. Dezember 2010 das Exekutivkomitee so umzustimmen, dass wir nicht nach Katar gehen.
Joseph Blatter
Menschenrechtsorganisationen fordern einen Entschädigungsfonds für die Arbeiter. Sehen Sie die FIFA und Präsident Gianni Infantino in der Pflicht?
Es ist natürlich die Pflicht der FIFA, dabei mitzumachen. Diesen Fonds muss man machen, die Katarer und die FIFA haben viel Geld. Sie sollten sich zusammenschließen, das würde eine Schlagzeile geben, die dem Land und dem Fußball guttun würde. Ein Fonds in der Größenordnung der Prämien, die man den 32 Teilnehmern bezahlt – oder sogar das Doppelte. Der Fußball hat einen hohen sozial-kulturellen Wert, wenn man diese Werte mit Füßen getreten hat und jetzt die Chance besteht, dass man etwas für die Leute tun kann, die darunter gelitten haben, dann ist das eigentlich eine logische Folge.
2013 berichtete der britische „Guardian“ bereits über Todesfälle und Ausbeutung von Gastarbeitern in Katar – während Ihrer Amtszeit. Wieso haben Sie sich nicht früher für einen solchen Fonds ausgesprochen?
Als ich an der Spitze der FIFA war, haben wir angefangen, das zu kontrollieren und Diskussionen zu führen. Wir mussten aber erst einmal die WM 2018 spielen, bevor wir bei der WM 2022 waren. Dann hat man dem Thema natürlich nicht den gleichen Stellenwert geschenkt. Ich leide noch heute darunter, dass es mir nicht gelungen ist, an diesem 2. Dezember 2010 das Exekutivkomitee so umzustimmen, dass wir nicht nach Katar gehen.
Haben der Fußball und die FIFA durch diese WM Schaden genommen?
Für den Moment, ja. Wir haben Schaden genommen. Und ich bin ein Teil davon. Ich will mich aber nicht zurückziehen und sagen, dass ich ein Unschuldslamm bin. Es war ein Irrtum, basierend auf einer Entscheidung, als ich der Präsident war – und ich trage dafür einen Teil der Verantwortung.
Ihr Nachfolger Infantino steht nicht nur aufgrund seiner Nähe zu Katar in der Kritik. Wie beurteilen Sie seine Arbeit?
Der FIFA-Präsident ist schon seit einiger Zeit in Katar, das ist ein Problem. Er ist nicht der WM-Chef, sondern er muss eine Kontrollfunktion ausüben. Er hat sich bei der FIFA in ein gemachtes Nest gesetzt – mit zwei Milliarden US-Dollar, in dem es bis zum Jahr 2030 lukrative Verträge mit Fernsehanstalten und Marketingpartnern gab. Besser geht es nicht. Mit Ausnahme von zwei Treffen kurz nach seiner Wahl spricht er nicht mit mir – nur über Anwälte.
Nächstes Jahr stehen Wahlen auf dem Kongress in Kigali (Ruanda) an. Würden Sie den Mitgliedern zu einer Wiederwahl Infantinos raten? Wäre das gut für die FIFA?
Wenn ich das Echo von Leuten höre, die bei der FIFA gearbeitet haben und es noch immer tun, sehe ich, dass sie mit ihrem Präsidenten nicht sehr zufrieden sind. Menschlich gesehen, weil er die Kontakte mit den direkten Mitarbeitern nicht sucht – er ist fast nie in Zürich. Ich kann auch sagen: Wie der neue Präsident den ehemaligen Präsidenten behandelt, das ist einfach respektlos.
Und grundsätzlich muss man festhalten, dass sich die FIFA in eine Richtung entwickelt, die dem Fußball schaden kann – da denke ich an die Aufstockung des WM-Feldes auf 48 Teams, die Aufblähung des internationalen Spielkalenders – oder auch die Einführung des VAR. Der Fußball sollte wieder zu seinen Wurzeln zurückkehren und die sozial-kulturelle Bedeutung zurückgewinnen – und nicht nur die weitere Kommerzialisierung anstreben.
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