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Zwangsrekrutierung: Geschichte von unten erzählen
Politik 4 Min. 15.02.2021 Aus unserem online-Archiv

Zwangsrekrutierung: Geschichte von unten erzählen

Das Logo des Warlux-Projektes enthält Bilder von Personen aus Luxemburg, die während des Zweiten Weltkriegs gestorben sind. Diese Menschen stehen exemplarisch für individuelle Lebensgeschichten.

Zwangsrekrutierung: Geschichte von unten erzählen

Das Logo des Warlux-Projektes enthält Bilder von Personen aus Luxemburg, die während des Zweiten Weltkriegs gestorben sind. Diese Menschen stehen exemplarisch für individuelle Lebensgeschichten.
Foto: Universität Luxemburg
Politik 4 Min. 15.02.2021 Aus unserem online-Archiv

Zwangsrekrutierung: Geschichte von unten erzählen

Morgan KUNTZMANN
Morgan KUNTZMANN
Die Uni erforscht mit dem Warlux-Projekt die individuellen Schicksale der Zwangsrekrutierten aus einer neuen Perspektive und braucht die Hilfe der Öffentlichkeit.

1920 bis 1927. Das waren die Jahrgänge der damals jungen Luxemburger, die letztendlich mit der Verkündung der Wehrpflicht am 30. August 1942 durch Gauleiter Gustav Simon in die Wirren des Zweiten Weltkriegs hineingezogen wurden. Die Zwangsrekrutierung dieser „geopferten Generation“ hatte weitreichende Folgen in der Lebensgeschichte dieser Menschen. 

Nach ihrer Rückkehr kämpften die Zwangsrekrutierten für Anerkennung und Wiedergutmachung. Gleichzeitig kam es zu erinnerungspolitischen Konflikten mit anderen Gruppen wie den Angehörigen des Widerstandes“, erklärte der Leiter des Warlux-Projekts, Denis Scuto, vergangene Woche bei einer digitalen Pressekonferenz. 


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„Es ist ein wichtiges Thema der Geschichte Luxemburgs. Mehr als 10.000 luxemburgischer Männer und Frauen trugen während des Zweiten Weltkriegs deutsche Uniformen der Streitkräfte und ziviler Organisationen wie der Wehrmacht, der Waffen-SS, der bewaffneten Polizei und dem Reichsarbeitsdienst (RAD). Von den mehr als 10.000 Rekrutierten sind um die 3 000 gestorben und 3.500 desertiert. Bei den Personen, die sich freiwillig in Wehrmacht meldeten, variiert die Zahl in der Geschichtsforschung zwischen 1.000 und 3.000“, betont der Geschichtsprofessor der Uni Luxemburg. 

Die verschiedenen Gruppen hatten teilweise eine andere Geschichte, die auch mit politischen Forderungen verbunden waren, was dazu führte, dass keine gemeinsame Geschichte geschrieben wurde. 

Den Zeitzeugen eine Stimme geben 

Das Forschungsprojekt soll den Blick hinter die Erinnerungskultur ermöglichen. Das „Warlux“-Forschungsprojekt wird die individuelle Person hinter der Menge dieser Männer und Frauen untersuchen. Die Einzelpersonen werden auf Grundlage ihrer Biografien analysiert. Ein individuelles Profil, das das soziale Umfeld, die soziale Herkunft beinhaltet und die Lebenswege während des Krieges und der Nachkriegszeit nachstellt, werde angefertigt. 

Dies ermöglicht einen neuen Zugang zum Thema, eine akteurzentrierte Sicht. „Man erfährt die Geschichte von unten“, erklärte die Postdoktorandin Nina Janz während der digitalen Pressekonferenz. „Um den biografischen Ansatz zu unterstreichen und neue Einblicke in die Kriegserfahrungen des Zweiten Weltkriegs in Luxemburg zu ermöglichen, suchen wir persönliche Erfahrungen. Wir bitten die Öffentlichkeit, uns Dokumente wie Briefe, Fotos, Tagebücher der Zwangsrekrutierten und von deren familiären Umfeld zur Verfügung zu stellen“, fügte Janz hinzu. 


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Bis heute werden in diesem Geschichtsfeld viele verallgemeinernde Begriffe benutzt, um komplexe Situationen zu beschreiben. „Mit den bisher unveröffentlichten Zeitdokumenten erhalten wir neue Perspektiven“, so Scuto.

 Neuer Forschungsansatz 

Dabei soll nicht wie bisher üblich nur das Schicksal der eingezogenen Soldaten betrachtet werden. Auch den Frauen- und Familienschicksalen soll Rechnung getragen werden. Frauen waren in dieser Zeit sowohl an der Kriegs- als auch an der Heimatfront aktiv. 

„Der Reichsarbeitsdienst war für beide Geschlechter obligatorisch. Luxemburgerinnen wurden auch in den Kriegshilfsdienst (KHD) eingezogen als Krankenschwester in Kriegslazaretten“, so der Historiker Michel Romain Pauly. Nicht nur Kriegs- und Fronterlebnisse sind für die Forscher von Interesse.


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„Auch die Erfahrung der in der Heimat zurückgebliebenen Familien ist wichtig. Wie gingen diese mit der Situation um, wenn eine oder mehrere Personen fehlten?“, so Pauly. Um der sozialen und regionalen Heterogenität des Landes gerecht zu werden, sind die Forschungen des Historikerteams auf die Regionalzentren Esch/Alzette und Schifflingen, sowie Echternach und Beckerich, wie auch Clerf, Ulflingen und Weiswampach fokussiert. 

„Die individuellen Kriegserfahrungen stehen im Mittelpunkt unserer Forschung“, erklärte die stellvertretende Forschungsleiterin Dr. Nina Janz, die bei ihrer Arbeit von zwei Doktoranden unterstützt wird. Michel Romain Pauly schreibt seine Doktorarbeit über die Rekrutierung der Sekundarschüler von der Schulbank an die Kriegsfront und die Auswirkungen, die dieses einschneidende Erlebnis hatte, während Sarah Maya Vercruysse die Auswirkungen der Einberufung auf die Familien und die Rolle der Frauen untersuchen wird. 

„Mein Ziel ist es zu untersuchen, wie die Familien mit der Zwangsrekrutierung ihrer Söhne oder dem Reichsarbeitsdienst der Mädchen klarkamen“, so Vercruysse. Zum Forschungsbestand ihrer Doktorarbeit zähle ebenfalls eine der Bestrafungen, die bei nicht Kooperation vom nationalsozialistischen Besatzer angewendet wurde: die Umsiedlung von Familien in den Osten. Auch bei den Zwangsumgesiedelten soll das individuelle Familienerlebnis im Vordergrund stehen. 

 Vereinfacht durch Digitalisierung 

Im Allgemeinen sei das Interesse in der Bevölkerung groß, persönliche Dokumente aus dieser Zeit den Forschern zur Verfügung zu stellen, sowohl von den noch lebenden Zeitzeugen als auch von deren Nachfahren. 


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„Wir wollen niemandem etwas wegnehmen. Die an der Forschung interessierten Personen können die Dokumente bei sich zu Hause einscannen und uns per E-Mail zusenden. Je mehr Dokumente wir erhalten, umso besser“, erklärte Janz. Das Team sei aber auch bereit zu den Personen, die über Dokumente verfügen, hinzufahren und diese dann vor Ort zu digitalisieren. Auch vor unerlaubter Veröffentlichung müssen sich die Dokumentenspender nicht fürchten. „Wir veröffentlichen nichts ohne die Erlaubnis der Besitzer der Dokumente“, so Janz. Hauptaugenmerk sei die historische Recherche. 


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„Wenn wir die Dokumente besitzen, dann können wir die Geschichte der Personen rekonstruieren und mit den Dokumenten, die wir in den Gemeinden und Nationalarchiven gefunden haben, vervollständigen“, erklärte Pauly. Ganz nach dem „Public History“-Gedanken sollen die aus der Forschung gewonnenen neuen Daten und Erkenntnisse zu den Widerständlern, Zwangsrekrutierten, Freiwilligen und Kollaborateuren am Ende des Forschungsprojektes der Öffentlichkeit digital und interaktiv auf einer digitalen Datenbank zur Verfügung gestellt werden.

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