"Wir muten unseren Kindern viel zu"
"Wir muten unseren Kindern viel zu"
Jedes Kind hat das Recht, psychisch gesund aufzuwachsen. Doch was bedeutet das? Psychisch gesund zu sein bedeutet, die normalen Lebensbelastungen bewältigen zu können, ohne in eine Depression zu fallen, ohne von Angstgefühlen gepackt zu werden und ohne jedes Mal einen Wutausbruch zu erleben.
Dass das bei vielen Kindern und Jugendlichen heute nicht mehr der Fall ist, sieht man in den Schulen und in den Betreuungseinrichtungen: Kinder, die nicht still sitzen können, sich nicht an Regeln halten, laut und gewalttätig werden oder aber in sich gekehrt in einer Ecke sitzen. Oft wird vergessen: Verhaltensabweichungen, egal welcher Art, deuten immer auf eine psychische Not hin.
Seelisches Wohlbefinden ist eine Grundvoraussetzung für eine gesunde Entwicklung und Potenzialentfaltung. Doch leider wird diese Tatsache auch heute noch verkannt und die Wichtigkeit von mentaler Gesundheit unterschätzt. Psychische Erkrankungen haben weitreichende gesundheitliche Folgen und beeinträchtigen das spätere Erwachsenenleben. Und das wiederum ist ein Kostenfaktor für die ganze Gesellschaft.
15 bis 20 Prozent der Jugendlichen in Europa leiden unter psychischen Störungen, schreibt das Ombudscomité fir d'Rechter vum Kand (ORK) in seinem diesjährigen Bericht mit dem Schwerpunkt "Mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen", den das ORK am Weltkindertag, dem 20. November, vorstellt.
"Seit dem Bericht von 2010 ist nichts passiert"
Der Bericht basiert auf einem Expertenbericht aus dem Jahr 2010 mit einer detaillierten Bestandsaufnahme der hiesigen Hilfsstrukturen für Kinder und Jugendliche und einer Auflistung von Expertenempfehlungen. "Dieser Bericht hätte eigentlich die Vorarbeit für einen nationalen Aktionsplan zur Förderung der psychischen Gesundheit sein sollen, doch es ist nichts passiert", erklärt der ORK-Vorsitzende René Schlechter am Dienstag auf Nachfrage des "Luxemburger Wort". Ihm ist wichtig, dass die Politik den roten Faden nun aufgreift und einen koordinierten Plan aufstellt, wie die einzelnen Maßnahmen ineinandergreifen.
Darüber hinaus fordert er bessere Kooperationsmöglichkeiten für Professionelle. In den meisten Fällen sind mehrere Professionelle involviert. "Es ist wichtig, gemeinsam abzuklären, wer was macht, und Verständnis für die Arbeit des anderen zu entwickeln", so Schlechter. Oft würde das ORK mit Fällen befasst, bei denen das eigentliche Problem die nicht funktionierende Zusammenarbeit der Fachleute sei, so der ORK-Vorsitzende.
Das ORK begrüßt die rezente Schaffung von sozio-therapeutischen Zentren für Kinder, die in der Regelschule nicht mehr beschult werden können, bedauert allerdings, dass es sechs Einzelstrukturen sind, "die zwar jede für sich eine gute Arbeit leisten mögen", so Schlechter, "aber es fehlt an einer koordinierten Aktion".
Weiterbildung von Schulpersonal
Das ORK sorgt sich auch um Familien, die aufgrund eines psychisch kranken Familienmitglieds - ein Elternteil oder ein Kind - stark belastet sind, aber oft davor zurückschrecken, um Hilfe zu bitten. Das Centre KanEl (RéseauPsy) in Esch/Alzette ist eine Struktur, die solche Familien betreut. Schlechter zufolge müssten Strukturen dieser Art auch im Zentrum und im Norden des Landes geschaffen werden.
Weiter plädiert das ORK für eine Sensibilisierung und Weiterbildung im Bereich psychische Gesundheit für Fachkräfte in Schulen und Betreuungseinrichtungen. Es sei wichtig, dass die Fachkräfte gut geschult sind, um dysfunktionales Verhalten frühzeitig zu erkennen und Maßnahmen in die Wege zu leiten. "Oft werden Kinder, die sich dysfunktional verhalten, als kleine Monster hochstilisiert und man sieht nicht die Not, die hinter dem Verhalten steckt", erklärt Schlechter.
Erwartungen an die Politik
Was tut die Politik für Kinder und Jugendliche? René Schlechter hat den Eindruck, dass sich manches tut, vor allem in Bezug auf die Schaffung von Hilfsstrukturen. "Geht es aber um das Wohlbefinden der Kinder wie zum Beispiel im Scheidungsgesetz oder im Jugendschutzgesetz, die beide einen großen Impakt auf das Leben von Kindern und Jugendlichen haben, dauert es Jahrzehnte, bis die Gesetze geändert werden", stellt Schlechter fest.
Genau so verhielt es sich auch mit dem Bericht aus dem Jahr 2010 über die psychische Gesundheit von Familien, der in der Schublade gelandet ist. Warum das so ist, darauf hat der ORK-Vorsitzende keine Antwort. Vielleicht wegen juristischer Schwierigkeiten? "Zentrale Fragen, die das Wohlbefinden von Kindern betreffen wie zum Beispiel das gemeinsame elterliche Sorgerecht hätte man auch herauslösen und separat regeln können", antwortet Schlechter.
Eine Lösung fordert das ORK auch für minderjährige Flüchtlinge, die ohne erwachsene Begleitung nach Luxemburg kommen und keinen Asylantrag stellen. Zwar gibt es nur wenige solche Fälle. Schlechter weiß aber von zwei Fällen - ein vierjähriges und ein zehnjähriges Kind -, die beide in Luxemburg "ausgesetzt" wurden "und für die keine Behörde zuständig war". Hier müsse ein Instrumentarium geschaffen werden, "das festlegt, was zu tun ist und wer zuständig ist".
Die Statistik zeigt, dass die Zahl der Fälle, mit denen das ORK befasst wird, zunimmt. Das könne viele Gründe haben, sagt Schlechter: der gestiegene Bekanntheitsgrad des Ombudscomités, die Zunahme von Flüchtlingsfällen oder schlicht die wachsende Bevölkerungszahl.
Frage an die Gesellschaft
Ob Kinderrechtsverletzungen in all ihren Formen insgesamt zunehmen, kann er allerdings so pauschal nicht sagen. Was ihm aber zu denken gibt, ist die Tatsache, "dass viel getan wird, um die Familien an den Arbeitsmarkt anzupassen", oft zulasten der Familien mit zwei arbeitenden Elternteilen, "die ihre Kinder früh morgens abgeben und spät abends wieder abholen".
"Wir muten den Kindern viel zu", so sein Fazit. Die Aussage will er nicht als Anschuldigung an die Familien verstanden wissen, "aber wir müssen uns als Gesellschaft fragen, ob wir die Familie unterstützen wollen oder ob wir den Fokus auf die Arbeitswelt legen", so der ORK-Vorsitzende. Er hat ein Beispiel parat: "Warum müssen Büros morgens früh oder abends spät sauber gemacht werden, wenn die Kinder ihre Eltern brauchen? Das geht auch zu normalen Bürozeiten."
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