Wenn die Jugend im EU-Parlament die Politik bestimmt
Wenn die Jugend im EU-Parlament die Politik bestimmt
Lautes Getöse, gepaart mit nervösem Gelächter, erhallt im Eingangsbereich des sonst so ruhigen Veranstaltungsraums des Forum Geesseknäppchen. Eigentlich ist der Saal für seine Stille in Zeiten der Prüfungsphasen bekannt. An dem Tag kommt einem beim Eintreten in den noch halbleeren Saal eine Schar an sichtlich schick gekleideten Jugendlichen entgegen. Auch wenn der Dresscode stimmt: schwarzer Anzug, bunte Krawatte, glatt gebügelte Anzughosen - manche wollten ihrem Outfit ihren eigenen persönlichen Touch verleihen: bunte Sneaker, die im Kontrast zum trostlosen Schwarz ihrer Sakkos stehen, Schulrucksäcke verziert mit farbenfrohen Ansteckern ...
Und doch: Die 16-bis 19-Jährigen aus zwölf verschiedenen Gymnasien, die an der neuesten Ausgabe des vom Lycée Aline Mayrisch organisierten „Model European Parliament“ (MEP), partizipieren, nehmen die Sache ernst. Das MEP, eine dreitägige Veranstaltung, bei der Jugendliche die Arbeitsprozesse des Europäischen Parlaments simulieren, ist für manche von ihnen das Highlight des Jahres. Für die 17-jährige Clara, die sich seit ihrem ersten MEP im Jahr 2021 zur Präsidentin einer der fünf Kommissionen der Veranstaltung heraufgearbeitet hat, ist es bereits die vierte Teilnahme. Das ist allerdings ihre letzte Veranstaltung. „Ich werde dann auf der Première sein. Man kann ab dem Zeitpunkt leider nicht mehr teilnehmen.“
Verständlich, denn die Veranstalter bestätigen, dass die Teilnehmerzahl begrenzt ist - und das aufgrund des großen Andrangs. Auch dieses Jahr habe es eine lange Warteliste gegeben. Ungefähr 110 Schüler wurden für 2023 aufgenommen. 20 verweilen auf der Warteliste. „Wir mussten den Aufnahmeprozess auf die Warteliste sogar stoppen, da diese sich sonst sicher verdoppelt hätte“, ergänzt einer der Veranstalter.
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Eine Simulation wie im echten Parlament: MEP empfängt Premierminister
Am Freitag erreichte die Nervosität der Jugendlichen womöglich ihren Höhepunkt. Die Komitee-Präsidenten durchqueren immer wieder den Saal auf der Suche nach den Mikrofonen für die anstehende Fragerunde. „Warte doch, warum haben wir zwei Dänemark-Flaggen?“, weist jemand die Organisatoren auf den kleinen Fauxpas hin. Die Tische, an denen die Delegationen aus den 27 EU-Mitgliederstaaten sitzen, sind mit den entsprechenden Landesfahnen beschmückt.
Nachdem die Schülerinnen und Schüler bereits zwei Tage in ihren jeweiligen Komitees unter anderem zu den Themen Cybersecurity, LGBTQIA+-Rechte und Arbeitslosigkeit innerhalb der EU debattiert haben, empfingen sie am Freitag einen hochkarätigen politischen Gast: Premierminister Xavier Bettel (DP), der von den beiden Vorsitzenden des MEP, Juliette Ganschow und Benedikt Strauß, feierlich empfangen wurde. Mit den Jugendlichen sollte er über drei Themenbereiche diskutieren und Fragen entgegennehmen. Dass der wenig scheue Premierminister auf der Bühne in seinem Element war, bewies er während der Fragerunde immer wieder aufs Neue.
Unterwegs zur Bühne, an der spanischen Delegation vorbei, entwischt Bettel ein kurzes „Hola, qué tal?“, die Italiener spricht er mit einem aufgesetzten italienischen Akzent an - und immer wieder während seines Vortrags bricht der Premier den Verhaltenscodex der Veranstaltung und wechselt vom Englischen ins Luxemburgische über.
Wenn Politik so abläuft, wie beim MEP, dann möchte ich Politiker werden!
Sam, Teilnehmer und Komitee-Präsident
Andere Werte und trotzdem zusammenarbeiten?
Bei der ersten Frage darauf angesprochen, wie er als Teil der LGBTQIA+-Community dazu stehe, dass bestimmte europäische Staaten, wie das von Viktor Orbán regierte Ungarn, sich gegenüber dieser Menschengruppe „unangemessen benehmen“, spricht er das Thema offen an: „I am gay, it's not my choice, it's a fact, dat ass halt esou.“ Homosexuell werde man nicht dadurch, dass man als Kind im Fernsehen die Sissi-Serie mit Romy Schneider gesehen habe, soll Bettel sogar Viktor Orbán persönlich gesagt haben, teilt er den Jugendlichen mit.
Manche Staatschefs würden versuchen, eine Kluft zwischen den Menschen zu schaffen, nur um konservative Stimmen bei den Wahlen einzusacken. Damals waren es die Juden, heute sind es die Homosexuellen. Die Antwort auf das Benehmen Orbáns, so Bettel: der Mechanismus der Konditionalität - kurz: Wer die Menschenrechte nicht respektiert, kriegt kein Geld, erklärt er den Jugendlichen. „Sometimes, money makes life easier and helps to make things clear.“
Es geht in der Politik immer um Respekt, trotz divergierender Meinungen.
Premierminister Xavier Bettel (DP)
Im Publikum wird genickt, gemurmelt, nachdenklich in die Ferne geschaut - und es werden kritische Fragen gestellt. Ein Vertreter der tschechischen Delegation hat schwer glauben: Wie kann man mit jemandem wie Orbán zusammenarbeiten, wenn man nicht dieselben Werte teilt? „Ich habe mir den vorigen amerikanischen Präsidenten auch nicht ausgewählt, musste aber mit ihm zusammenarbeiten. Es geht in der Politik immer um Respekt, trotz divergierender Meinungen“, antwortet Bettel.
Bettel: „Kapitalismus und Menschenrechte nicht verwechseln“
Der Premier schweift bei seinen Antworten im Laufe der Veranstaltung immer wieder aus. Dass Bettel sich gerne in rhetorische Eskapaden verliert, statt auf konkrete Fragen zu antworten, ist bekannt. Desto beeindruckender ist die Manier, mit der die Jugendlichen das Gesagte auf der Bühne hinterfragen. Zum Thema Energie und Inflation bleiben diese hartnäckig. „I didn't do politics with a Kristallkugel“, erwidert zwar der Premier, als er auf die Entwicklung der Energiepreise angesprochen wird, allerdings fragt sich die belgische Delegation, ob Kernenergie nicht die Antwort auf das Problem der Energieknappheit sein kann. Die bulgarische Delegation gibt dem „endlosen Wachstum“ die Schuld für die Inflation. Griechenland geht noch weiter und stellt das kapitalistische System, das Menschenrechte verletzt, infrage.
„Wir dürfen Kapitalismus und Menschenrechte nicht vermischen. Wir sind als Wirtschaftsstandort auf Dienstleistungen spezialisiert. Besteuern wir Kapitalismus mehr, werden uns Betriebe sofort verlassen“, entgegnet Bettel. „Don't mix up everything!“, mahnt er sogar die Griechin. Nicht im kapitalistischen Europa würden Menschenrechte verachtet werden, sondern in anderen Ländern auf der Welt.
Wer davor nicht von Politik überzeugt war, ist es jetzt
Ob Bettel mit seinen Antworten überzeugt hat? „Ich fand seine Antworten inspirierend. Sie haben mich zum Nachdenken gebracht. Er hatte eine starke Antwort zu allem, aber natürlich muss man seine Worte hinterfragen“, gibt die Präsidentin des MEP, Juliette Ganschow, zu bedenken. Die 17-Jährige ist eine routinierte Jugendpolitikerin. Seit ihrer ersten Teilnahme 2021, als sie noch Abgeordnete im MEP war, wurde sie nun dieses Jahr als Präsidentin weiterempfohlen. Politikwissenschaften zu studieren und ein politisches Amt in Zukunft zu bekleiden, kann sich die Jugendliche gut vorstellen.
Auch Sam, einer der Komitee-Präsidenten, sieht sein Interesse an Politik durch die Veranstaltung geweckt: „Nach meinem ersten MEP habe ich meiner Mutter gesagt: Wenn Politik so abläuft wie beim MEP, dann möchte ich Politiker werden!“ Die Aussagen des Premiers fand er ebenso inspirierend. Dass seine Meinungen nicht im Sinne aller seien und hinterfragt werden, sei Teil der Position Bettels. „So ist es in der Politik.“
Gaia, die zum ersten Mal am MEP teilnimmt, meint, in dem Kontext der Diskussionen aufzublühen. Die politische Diskussionskultur in Gremien sei allerdings eine andere, als die in der Schule: „Es war stressig, vor Menschen zu reden, die ich nicht kenne. Sie haben manchmal meine Meinung attackiert, weil sie nicht klar genug war. Ich habe dadurch aber viel gelernt und bin glücklich über die gute Zusammenarbeit mit den anderen.“ Im nächsten Jahr möchte die Jugendliche nicht mehr aus der Reserve gelockt werden müssen, um ihre Meinung zu äußern: „Ich will mich noch besser auf die Diskussionen vorbereiten und Reden halten, damit ich eine Empfehlung bekomme, um im Jahr darauf Komitee-Präsidentin zu werden.“
Und was macht eine Komitee-Präsidentin? „Man muss Diskussionen moderieren, Gespräche anregen, das Organisatorische übernehmen und Neuen erklären, wie alles funktioniert“, erklärt die bereits zu Anfang genannte Komitee-Präsidentin Klara gegenüber dem „Luxemburger Wort“. Was sie allerdings vor allem am MEP begeistere, sei der Kontakt zu anderen Gleichaltrigen. „Ich stehe mit vielen in Kontakt und wir planen bereits ein Wiedersehen.“
Es war stressig, vor Menschen zu reden, die ich nicht kenne. Ich habe dadurch aber viel gelernt und bin glücklich über die gute Zusammenarbeit mit den anderen.
Gaia, erste Teilnahme am MEP
Obwohl die Jugendliche bis dato nur wenig mit Politik in Kontakt gekommen ist, fühlt sie sich von der Veranstaltung inspiriert. Politikerin möchte sie allerdings nicht werden. „Ich möchte unbedingt Medizin studieren.“ Warum auch in die Politik gehen? „Durch das MEP kommt man ja mit verschiedenen Jugendlichen in Kontakt, die bereits in manchen Organisationen engagiert sind: Unicef, Pfadfinder etc. Wenn man politisch etwas bewirken möchte, kann man sich dort engagieren“, sagt Sam. Beim MEP würden die Jugendlichen keinen direkten Einfluss auf die Politik ausüben, allerdings lernen sie die Grundlagen der Demokratie: eine Meinung äußern, diese vertreten und sie auch manchmal ändern. Ob die Jugend mit ihren Fragen und Anregungen auch bei Xavier Bettel zu einem Umdenken in manchen Themen geführt hat?
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