Warum die Regierung keine Impfpflicht einführt
Warum die Regierung keine Impfpflicht einführt
Fast zwei Stunden diskutierte die Regierung am Freitag mit der Expertengruppe deren am Dienstag vorgelegtes Gutachten zur Impfpflicht. „Es war mir wichtig, dass keine offenen Fragen mehr bestehen“, betonte Premierminister Xavier Bettel (DP) im Anschluss. Gemeinsam mit Justizministerin Sam Tanson (Déi Gréng) und Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) erklärte er, welche Maßnahmen jetzt ergriffen werden, um den Herbst vorzubereiten.
Die von der Expertengruppe empfohlene Impfpflicht für die über 50-Jährigen wird nicht zurückbehalten, ein Gesetz dazu wird aber dem Staatsrat und dem Parlament vorgelegt, ohne formell auf den Instanzenweg geschickt zu werden, damit es im Zweifel schnell verabschiedet werden kann. „Wir wollen aber die Parlamentsdebatte und die Meinung aller Parteien kommende Woche noch abwarten und dann den Text den Abgeordneten vorlegen“, betonte der Premier.
Breite Mehrheit fehlt
„Die Diskussion über eine Impfpflicht ist nicht einfach, weil es ein sensibles Thema ist und sie dem freiheitlichen Geist widerspricht“, gab Bettel zu bedenken. Eine solche Obligation sei nur umsetzbar, wenn eine breite Mehrheit sie auch unterstützt. Das sei Anfang des Jahres noch der Fall gewesen, als viele der um ihr Gutachten befragten Vertreter der Zivilgesellschaft sie befürworteten. „Es sprachen sich bei der Chamber-Debatte auch 52 der 60 Abgeordneten dafür aus“, strich Bettel hervor.
Mittlerweile habe sich die Situation aber ständig geändert. „Jeden Tag gibt es neue Erkenntnisse. Die letzten sechs Monate zeigen gut, wie das Virus sein Gesicht ändern kann. Von der Delta-Variante auf die ansteckendere, aber nicht so krank machende Omikron-Variante. Wir haben keine Garantie, wie es im Herbst und Winter aussehen wird.“
Erfahrungsgemäß bringt Impfpflicht nichts
Das zweite Experten-Gutachten sei auf den neuen Erkenntnissen aufgebaut, entsprechend differenzierter ausgefallen und lasse Spielraum. „Die Politik muss jetzt ihre Schlüsse ziehen“, stellte Bettel fest. Es stelle sich die Frage, wie und ob eine Impfquote von 100 Prozent zu erreichen sei. Die Erfahrung in anderen europäischen Ländern zeige, dass sich auch mit einer Impfpflicht nur noch wenige überzeugen ließen.
„Es gibt in dieser Frage kein definitives Richtig und Falsch, kein Schwarz und Weiß. Der Mehrwert einer Impfpflicht ist nicht so hoch, wir machen aber alles, damit das Gutachten beachtet wird. Die Politik wird sich auf den Herbst vorbereiten, denn das Virus kann sein Gesicht jeden Moment ändern.“
Die juristische Argumentation
Justizministerin Sam Tanson ging dann auf die Prämissen ein, die laut Europäischem Menschengerichtshof erfüllt sein müssen: Damit die beiden Grundrechtseingriffe – der Gesundheitsschutz und der mit der Impfpflicht verbundene Eingriff in das Privatleben sowie die körperliche Unversehrtheit – sich die Waage halten, muss ein Ziel vorliegen, das Ziel muss erfüllt werden können und die Maßnahme muss verhältnismäßig sein.
Die Situation ist zu hypothetisch, um einen Eingriff wie eine Impfpflicht zu rechtfertigen.
Sam Tanson
„Unsere Politik war immer davon geleitet, dass das Gesundheitssystem nicht überlastet sein darf“, erklärte Tanson. Es müsste also eine virulente Variante vorherrschen und ein Impfstoff verfügbar sein, der dagegen wirkt. „Wir sind zur Konklusion gekommen, dass die Konditionen des Europäischen Menschengerichtshofs derzeit nicht erfüllt sind. Denn wir wissen nicht, was im Herbst sein wird - die Situation ist zu hypothetisch, um einen Eingriff, wie eine Impfpflicht zu rechtfertigen.“
Da man derzeit also keinen stichhaltigen Motivenbericht für ein Impfpflichtgesetz vorlegen kann, werde man dennoch für den Fall, dass man dieses braucht, den Text so weit fertigstellen, dass er in einer schnellen Prozedur verabschiedet werden kann.
Experten-Bericht zu vage
Gesundheitsministerin Lenert ergänzte: „Unsere freiheitliche Demokratie fordert solide Argumente. Wir müssen überzeugend belegen können, dass der erwartete Effekt eintritt. Dafür ist der Experten-Bericht aber zu vage und weist zu viele Unsicherheiten auf.“
Wir müssen überzeugend belegen können, dass der erwartete Effekt eintritt.
Paulette Lenert
Man wisse, dass Impfstoffe wirken, dass Impfungen die Situation in den Spitälern entlasten, dass sie Schutz für den Einzelnen und für die Bettenbelegung bringen. „Das Risiko eines schweren Verlaufs oder Todes ist bei Ungeimpften 20 Mal höher“, bekräftigte Lenert. Die Auswirkung einer Impfpflicht auf die Bettenbelegung sei aber nicht so hoch.
Helpline, Impfkampagne und Impfregister
Man bleibe dennoch vorbereitet. Hier listete Lenert die Helpline im CHL auf, bei der jeder, der Fragen zur Impfung hat, sich melden kann. Es werde weiterhin von Ärzten, in Apotheken, im Impfbus und in Pop-up-Stores geimpft und Kampagnen durchgeführt. Die Impfzentren können schnell wieder öffnen, wenn sie gebraucht werden. Und man warte gespannt auf die nächste Generation von Impfstoffen.
Die Santé verfügt zwar über die Daten zum Impfstatus der Wohnbevölkerung und kann die Ungeimpften gezielt anschreiben. Zu den Grenzgängern fehlen diese Daten aber, was die Experten auch monierten. Lenert stellte jetzt noch vage ein Impfregister in Aussicht, das von den Arbeitgebern geführt werden kann. Denn: „Ein solches Register wäre ein Plus. Wir schauen jetzt juristisch, was geht und was es bringt.“
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