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Selbstbestimmung, eine soziale oder eine wirtschaftliche Frage?
Politik 6 Min. 05.02.2023
Analyse und Meinung

Selbstbestimmung, eine soziale oder eine wirtschaftliche Frage?

Solange unser Wirtschaftssystem sich nicht ändert, solange wird es auch keinen Einklang zwischen Privat- und Berufsleben geben, gibt der Autor zu bedenken.
Analyse und Meinung

Selbstbestimmung, eine soziale oder eine wirtschaftliche Frage?

Solange unser Wirtschaftssystem sich nicht ändert, solange wird es auch keinen Einklang zwischen Privat- und Berufsleben geben, gibt der Autor zu bedenken.
Foto: dpa
Politik 6 Min. 05.02.2023
Analyse und Meinung

Selbstbestimmung, eine soziale oder eine wirtschaftliche Frage?

Der Autor erläutert, wie die Solidarwirtschaft an Bedeutung gewinnen kann.

 Von Romain Biever *

Als im Jahre 1999 Helen Clark in Neuseeland Premierministerin wurde, war dies auch darauf zurückzuführen, dass sie im Wahlkampf das Muster der „einfachen Fragen“ anwandte. Das hieß, dass, um komplexe Zusammenhänge verstehen zu können, einfache Fragen helfen sollten, diese zu hinterfragen oder gegebenenfalls sie zu entmystifizieren.

Das Beispiel Neuseeland

Dies galt für die ganze Bandbreite der politischen Themen, insbesondere aber für undurchsichtige und schwer vermittelbare Fachgebiete wie die Wirtschafts- und Finanzpolitik. Als sie 2008 abdankte, war sie dreimal hintereinander zurück gewählt worden und hinterließ ein Land, welches damals schon eine Vorreiterrolle in Sachen öko-soziale Transformation in der Welt übernommen hatte und wovon die nationale neuseeländische Politik bis heute profitiert.

Zwei ausgesuchte, markante Aussagen von Helen Clark sollen dem Inhalt dieses Artikels, der sich grundsätzlich mit den Fragen zur sozialen Gerechtigkeit beschäftigt und spezifischer die Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben analysieren möchte, ihren Rahmen geben: „Wenn es dem Markt überlassen wird, die Dinge zu regeln, wird die soziale Ungerechtigkeit verschärft und das Leid in der Gemeinschaft wächst mit der Vernachlässigung, die der Markt fördert.“ „Jeder ernsthafte Wandel hin zu nachhaltigeren Gesellschaften muss die Gleichstellung der Geschlechter beinhalten.“


(FILES) In this file photo taken on November 30, 2020, New Zealand's Prime Minister Jacinda Ardern arrives for a press conference to speak about the charges laid over the 2019 White Island volcanic eruption, in Wellington. - New Zealand Prime Minister Jacinda Ardern announced on January 19, 2023 she will resign next month. (Photo by Marty MELVILLE / AFP)
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Helen Clark berief sich ausdrücklich auf die damals neue Politik der nachhaltigen Entwicklung, welche auf den drei Säulen Wirtschaft, Umwelt und Soziales aufbaute. In dieser Reihenfolge. In diesem Sinne sei eine erste einfache Frage erlaubt: Warum stellen wir nicht den sozialen Zusammenhalt an die erste Stelle unseres politischen Handelns? Wir könnten alle anderen Politikfelder danach ausrichten. 

Die Wirtschaftspolitik könnte so gestaltet werden, dass jeder Mensch genug zu essen hat, wohnen kann und dass die fortschrittlichen Annehmlichkeiten, auch die technologischen, für alle zugänglich sind. Die Finanzpolitik würde es erlauben, ein faires Tauschmittel in Form von Geld zu unterhalten, welches für jeden in angemessener Weise verfügbar ist und ihm den Zugang zu einem dezenten Leben ermöglichen sollte. In der Umweltpolitik könnte ein Katalog von Anreizen für die Menschen und für die Wirtschaftsakteure geschaffen werden, welcher sich nicht wie bisher an den Ansprüchen der Profitmaximierung orientiert, sondern an der nachhaltigen Entwicklung. 

Deshalb sollten wir uns heute vergewissern, welche Politik wir wollen, die es möglich macht, den sozialen Zusammenhalt zu gewährleisten.

Deshalb müsste es vorrangig und übergreifend in der Sozialpolitik darum gehen, die Menschen, welche eine andere Sichtweise in puncto Selbstverwirklichung haben, nicht auszugrenzen, sondern ihre Andersartigkeit als einen entscheidenden Beitrag anzunehmen und zu einer tagtäglichen Gerechtigkeitsfrage zu machen. Deshalb sollten wir uns heute vergewissern, welche Politik wir wollen, die es möglich macht, den sozialen Zusammenhalt zu gewährleisten. 

Die Vereinbarkeit von Privat- und Berufslebens wäre eine relevante Frage in diesem Zusammenhang. Ist es also in der aktuellen, als schnelllebig empfundenen Zeit möglich, das Arbeitsleben und unser emotionales und affektives Leben in Einklang zu bringen? Trägt die Politik dem Umstand der Selbstbestimmung Rechnung? Oder sind unausgegorene Gesetze eher der Taktgeber, welcher über unsere Art und Weise zu leben bestimmt und uns in genormte Bahnen lenkt? Wo bleibt dann der Raum für alternative Lebensentwürfe?

Auch in Luxemburg hat sich sicher vieles verändert und wurde gesetzlich geregelt. Auf der emotional-affektiven Ebene hat die klassische Familie durch andere neue gemeinschaftliche Lebensentwürfe einen tiefgreifenden Wandel erfahren und wurde pluraler. Die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau ist formal vollzogen, zumindest auf dem Papier. Solche richtungsweisenden Wandel finden auch in anderen Politikfeldern statt, wie vornehmlich auch in der Umweltpolitik. Auch in den klassischen sozialen Bereichen der Politik (Familie, Arbeit, Schule, Ausbildung, Wohnen …) hat sich vieles getan.

Solange also unser Wirtschaftssystem sich nicht ändert, solange wird es auch keinen Einklang zwischen Privat- und Berufsleben geben.

Mit Gesetzen, die im Prinzip den Menschen das Leben erleichtern sollen und beim ersten Hinsehen sehr schnell als positiv bewertet werden (Gratis-Kinderbetreuung, Elternurlaub, Energieprämie, Wohnungszulagen …). Diese   Entwicklung hat aber die Behinderung, eine einseitige Dynamik zu haben, denn in der Wirtschafts- und Finanzpolitik scheint sich nichts zu ändern. Diese weiterhin unser Leben bestimmenden Politikfelder bewirken, dass die Frauen, die Männer und die Kinder, gezwungenermaßen weiterhin exklusiv nur als „produktive Faktoren“ im Gefüge eines Systems funktionieren müssen, welches ausschließlich an seiner eigenen Wirtschaftsleistung interessiert ist.

Die Schlüsselfunktion der Steuern

Solange also unser Wirtschaftssystem sich nicht ändert, solange wird es auch keinen Einklang zwischen Privat- und Berufsleben geben. Trotz der gut gemeinten Verbesserungen im Sozialbereich. Im Gegenteil, die Menschen werden nur noch abhängiger vom Wirtschaftssystem, als Brotgeber, wie auch vom Staat, als Grundversorger. Der gesetzliche Rahmen müsste eher den Fähigkeiten der Menschen, ihr Schicksal selber in die Hand zu nehmen und alternative Lösungen zu leben, Rechnung tragen.


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Eine Schlüsselfunktion könnte das Finanz- und Sozialinstrument der Steuer sein. Mit diesem Instrument könnten die Menschen aus dem Joch und aus dem Chaos einer Reparaturpolitik herausgeholt werden. Man könnte verhindern, dass die Kinder, trotz oder gerade wegen der Gratis-Kinderbetreuung, riskieren in diesem unausgeglichenen Zusammenspiel der gegenteiligen Interessen von Selbstbestimmung und Wirtschaft zermalmt zu werden. Wenn man die Alleinerziehenden als Kollateralschaden wahrnimmt, zeigt sich am Beispiel der Gratis-Kinderbetreuung nämlich konkret, dass das vorgegebene Muster, welches für unsere heutige Gesellschaft gedacht wird, das einer partnerschaftlichen Gemeinschaft ist, in der beide Partner erwerbstätig sein müssen. 

Die Definition von Luxus

Dies hat zur Folge, dass auf der einen Seite, wenn das Einkommen hoch genug ist, diese Menschen sich den „Luxus“ leisten können, sich beide selbst zu verwirklichen. Dass es dann aber auf der anderen Seite die Menschen gibt, deren Lohnarbeit sie eher dazu zwingt, zwei Einkommen zu haben, um über die Runden zu kommen und die Frage der Selbstverwirklichung an sich dann der „Luxus“ ist. Da beide aber in gleichem Maße von der Gratis-Betreuung profitieren, gilt das französische Sprichwort « le beurre et l’argent du beurre … ». Dies ist ein auch ein gutes Beispiel dafür, wieso die Schere zwischen Arm und Reich immer größer wird, auch in Luxemburg! Eine Gerechtigkeitsfrage also? Sicher, aber auch ein konkretes Beispiel dafür, dass Selbstverwirklichung im Kontext der Vereinbarkeit von Privat- und Berufsleben nicht in erster Linie eine Geschlechterfrage ist, sondern eine von Zwängen gesteuerte wirtschaftliche.

Deshalb sollten in Luxemburg zwei Gesetze überarbeitet werden, um in Richtung einer gerechteren und offeneren Gesellschaft voranzukommen. Zum einen wäre es das Sozialhilfegesetz, welches, im Respekt des Rechts auf Selbstbestimmung, ein echtes Anspruchsgesetz werden muss. 

Auf der anderen Seite sollte im Bereich der Wirtschaft das Gesetz der Société d’impact sociétal (SIS) für die Sozial- und Solidarwirtschaft abgeschafft werden, da es sehr wenig genutzt wird, nicht zielführend ist und es sollte durch das Gesetzesprojekt der Association d’intérêt collectif (AIC) ersetzt werden. Es wäre für die heutigen Vereinigungen ohne Gewinnzweck eine echte Alternative, um als exemplarische Wirtschaftsakteure handeln zu können. Die Solidarwirtschaft bekäme so die Bedeutung, die sie bräuchte, um dazu beizutragen, dass selbstbestimmtes ökonomisches Agieren ein korrektiver und regulierender Teil unseres Wirtschaftssystems sein kann.

* Der Autor ist Präsident des Institut luxembourgeois de l’économie solidaire (ILES).

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