„Immer mehr Kinder leiden in der Betreuung“
„Immer mehr Kinder leiden in der Betreuung“
Das Fass hat sich über die Jahre ganz langsam gefüllt. Ein Tropfen hat gereicht, um es zum Überlaufen zu bringen. Dieser Moment war jetzt da und Tom Nero hat beschlossen, seine Sorgen, seine Kritik und seine Forderungen öffentlich zu machen.
Der 33-jährige vierfache Vater arbeitet seit zehn Jahren im Betreuungssektor, erst bei den ganz Kleinen, momentan leitet er eine Maison relais mit 240 Betreuungsplätzen. Er sieht das Kindeswohl in Gefahr und es tut ihm in der Seele weh, mitanzusehen, wie immer mehr Kinder leiden, „weil ihre Bedürfnisse in der Betreuung zu kurz kommen“, und wie wenig die Einrichtungen dagegen tun können, weil ihnen die Mittel fehlen.
„So, wie die Kinderbetreuung derzeit organisiert ist, ist es unmöglich, den emotionalen Bedürfnissen der Kinder gerecht zu werden“, sagt er.
Beunruhigende Beobachtungen
Der Sozialpädagoge macht seit mehreren Jahren beunruhigende Beobachtungen: Die Anzahl an Kindern, die ganztags betreut und erst nach 17.30 Uhr abgeholt werden, steigt konstant. Die Anzahl der Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten steigt konstant. Die Anzahl der Eltern, mit denen die Zusammenarbeit schwierig ist, steigt konstant. Die Anzahl an Erziehern, die der Belastung nicht standhalten und krank werden oder das Arbeitsfeld wechseln, steigt konstant. Der Mangel an Personal, vor allem an qualifiziertem Personal, ist akut. „Die Entwicklung zeigt in die falsche Richtung. Dafür gibt es Ursachen. Nichts entwickelt sich ohne Grund über zehn Jahre in die falsche Richtung“, sagt Nero.
Habe der Anteil verhaltensauffälliger Kinder vor zehn Jahren noch bei drei bis fünf Prozent gelegen, so liege er jetzt bei rund zehn Prozent aller Kinder. „Das sind Kinder, die in ihrer emotionalen Welt kein Gleichgewicht haben und das entweder durch Aggressivität zum Ausdruck bringen, durch eine tiefe Trauer, durch Verschlossenheit oder Gleichgültigkeit“, berichtet er.
Hoher Krankenstand beim Personal
Diese Kinder bräuchten dringend eine engere Betreuung, manche sogar eine eins-zu-eins-Betreuung, damit ihre Bedürfnisse erfüllt werden. „Das geht aber nicht, wenn der Betreuer sich noch um zehn andere Kinder kümmern muss.“
Die Folge: Die Kinder verstärken ihr auffälliges Verhalten, die Betreuer geraten immer mehr unter Druck, halten der Belastung nicht stand und fallen irgendwann aus. Übrig bleiben die Robusten und Resistenten, doch auch sie brennen irgendwann aus und wechseln den Sektor, „weil sie gegen ein System angekämpft haben, in dem sie als Einzelpersonen leider nichts bewirken konnten“, erzählt der vierfache Vater.
Was ihn auch beunruhigt, ist die zunehmende Anzahl an Eltern, die Probleme haben, sich in ihrer Rolle zurechtzufinden. „Die meisten Eltern kooperieren mit uns, sorgen sich um ihre Kinder, erfüllen ihre Rolle. Aber es gibt immer einen gewissen Prozentsatz, der das nicht tut. Dieser Prozentsatz wird von Jahr zu Jahr größer. Das macht mir große Sorgen“, sagt Nero.
Wir müssen manchmal Eltern darauf aufmerksam machen, dass es an der Zeit wäre, das Kind zu seinem eigenen Wohl mal eine Woche zu Hause zu lassen.
Tom Nero
Sorgen bereiten ihm auch Eltern, „die einfach nur wollen, dass alles funktioniert, die nicht hören wollen, wie es in der Schule oder der Betreuung war“. Die Zusammenarbeit mit diesen Eltern sei schwierig und die Elternarbeit insgesamt wichtiger, intensiver und zeitaufwändiger. „Wenn die Kinder so viele Stunden betreut werden, müssen die Eltern uns als legitimen Erziehungspartner anerkennen. Es tut den Kindern nicht gut, wenn Schule, Betreuer und Eltern nicht gemeinsam an einem Strang ziehen.“
Und es bereitet ihm Sorgen, zu sehen, dass Eltern sich mehr und mehr ihrer Verantwortung entziehen, „sei es, weil sie Stress haben, wenig Zeit oder weil sie unsicher sind und nicht wissen, was ihre Rolle als Eltern ist“. Mitunter komme es vor, dass Kinder sechs Monate lang ununterbrochen in der Betreuung sind. „Wir müssen manchmal Eltern darauf aufmerksam machen, dass es an der Zeit wäre, das Kind zu seinem eigenen Wohl mal eine Woche zu Hause zu lassen.“
Bildungsminister streut Eltern Sand in die Augen
Für diese ungesunde Entwicklung macht Nero die Politik der vergangenen zehn Jahre verantwortlich, die einerseits möchte, dass die Erwachsenen arbeiten gehen, andererseits aber nicht die Voraussetzungen schafft, damit die Einrichtungen die geforderte Betreuungsqualität leisten können.
Seit zehn Jahren lautet die Botschaft des Ministers: Gebt Eure Kinder in die Betreuung. Dann werden aus ihnen starke Kinder. Das stimmt für viele Kinder nicht.
Tom Nero
Seine Hauptkritik gilt dem Bildungsministerium und dem zuständigen Minister Claude Meisch (DP), „weil er den Eltern Sand in die Augen streut und sie im Glauben lässt, ihre Kinder seien in der Betreuung bestens aufgehoben“. Die schöne, perfekte Welt, wie sie in den Prospekten des Ministeriums oder einzelnen Projekten dargestellt werde, sei ein Trugschluss, „Momentaufnahmen, die alles im besten Licht zeigen. Die Realität in den Häusern aber ist weniger glanzvoll. Oft gibt es Krisensituationen, die stressig für Kinder und Betreuer sind“.
Seit zehn Jahren laute die Botschaft des Ministers: Gebt Eure Kinder in die Betreuung. Dann werden aus ihnen starke Kinder. „Das stimmt für viele Kinder nicht. Viele Kinder leiden emotional, wenn sie lange in der Betreuung sind. Selbst wenn die Erzieher ihr Bestes geben, können sie die Eltern nicht ersetzen und nicht so auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen, wie sie es bräuchten. Die Eltern aber glauben die Botschaft des Ministeriums, geben ihre Verantwortung mehr und mehr ab und ihr Elterninstinkt geht mehr und mehr verloren.“
Betreuung geht nur mit Bindung
Der vierfache Familienvater möchte, dass die Politik die Reißleine zieht. Er sieht das Wohl vieler Kinder in Gefahr und möchte, dass es wieder in den Mittelpunkt gestellt wird. Das Kindeswohl im Blick haben, kann bedeuten, eine Politik zu machen, die darauf abzielt, die Zahl der Kinder und die Betreuungszeit zu senken und die verfügbaren Personalressourcen so zu verteilen, dass eine bessere Betreuungsqualität möglich wird.
„Sollte die Politik jedoch das Modell bevorzugen, Eltern für den Arbeitsmarkt verfügbar zu haben und die Kinderbetreuung auszubauen, muss sie die Voraussetzungen für eine gute Betreuungsqualität schaffen“, fordert Nero.
Sollte die Politik das Modell bevorzugen, Eltern für den Arbeitsmarkt verfügbar zu haben und die Kinderbetreuung auszubauen, muss sie die Voraussetzungen für eine gute Betreuungsqualität schaffen.
Tom Nero
Gute Betreuungsqualität ist nur möglich, wenn die Kinder eine gute, sichere Bindung zu ihren Betreuern haben. Das wiederum geht nur, wenn der Betreuungsschlüssel angepasst wird und die Betreuer genug Zeit haben, sich auf die Kinder einzulassen und ihr Bedürfnis nach Bindung und Beziehung zu erfüllen.
Ob das Ministerium das auch so sieht? „Ich kann es nicht erkennen“, sagt Tom Nero. „Es wird sehr viel über Konzepte, Räumlichkeiten oder Material gesprochen. Das ist sehr präsent, auch in den konzeptuellen Aussagen des Ministeriums.“
Viel wichtiger aber sei die Beziehungsebene. „Kinder wollen auf den Arm genommen und getröstet werden, wenn sie ihre Eltern vermissen. Sie brauchen manchmal die ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Betreuer. Wie soll das gehen, wenn man noch zehn andere Kinder betreuen muss, die auch Aufmerksamkeit brauchen?“
Die aktuell erlaubten Gruppengrößen und Betreuungsschlüssel erlauben Nero zufolge keine kindgerechte Betreuungsqualität. In einer Befragung, die 2020 in einer großen Maison relais (600 Kinder) durchgeführt wurde, gaben die befragten Betreuer an, dass sie nur 6,3 Prozent ihrer Arbeitszeit für sinnvolle pädagogische Arbeit verwenden, die meiste Zeit (30,5 Prozent) gehe für Aufsicht (Surveillance) und für Organisation und Verwaltung drauf (23,4 Prozent).
Nachlesen kann man das im Bildungsbericht 2021 (Entwicklung der Maisons relais pour enfants in Luxemburg). Die wissenschaftliche Studie ergab, dass die Umsetzung der im 2017 eingeführten nationalen Rahmenplan angestrebten Zielsetzungen nur bedingt gelinge. „Als ausschlaggebend hierfür erweist sich vor allem der Personalschlüssel, der nicht deckungsgleich mit der Fachkraft-Kind-Relation zu sehen ist und von vielen Professionellen als nicht ausreichend empfunden wird.“
In Deutschland liegt der von der Bertelsmann Stiftung empfohlene Betreuungsschlüssel bei den unter Dreijährigen bei maximal drei Kindern pro Erzieher. Und bei den über Dreijährigen sollte ein Betreuer nicht für mehr als 7,5 Kinder zuständig sein. In Luxemburg kommt in der Kategorie 0–2 Jahre ein Betreuer auf sechs Kinder. In der Kategorie 2–4 Jahre ist es ein Betreuer für acht Kinder. Die Vier- bis Zwölfjährigen sind gleichgestellt (elf Kinder pro Betreuer), „obwohl Vierjährige noch viel intensiver betreut werden müssen als Zwölfjährige“, sagt Nero und fordert dringend einen kindgerechten Betreuungsschlüssel - und eine Zwischenkategorie (4 bis 8 Jahre) mit maximal acht Kindern pro Betreuer, „damit die Erzieher die so wichtige Bindungsarbeit leisten und die Betreuungsqualität anbieten können, die vom Ministerium verlangt wird“.
Wenn die Bedürfnisse der Kinder in den ersten Lebensjahren erfüllt werden, hat man später viel ausgeglichenere Elf- und Zwölfjährige.
Tom Nero
Offene Konzepte
Die Bindungsarbeit ist umso wichtiger, als das vom Ministerium bevorzugte und stark geförderte Modell das der offenen Arbeit ist, die sich dadurch auszeichnet, dass die Kinder viel Gestaltungsfreiraum haben. Die Freiheit macht aber nur Sinn, wenn die Kinder eine gute Beziehung zu ihren Erziehern haben. „Die offenen Konzepte haben klar Vorteile“, sagt Tom Nero, „aber der Nachteil ist, dass dadurch der Aufbau von Beziehung zwischen den Kindern und Erziehern erschwert wird. Das Modell ist nicht für jede Altersgruppe angepasst“, findet er und rät, die Konzepte noch einmal zu überdenken und mehr die Beziehung der Kinder zu den Erziehern in den Vordergrund zu stellen, mit allem, was nötig ist, damit die Bindung aufgebaut werden kann: kleinere Gruppen, mehr Zeit für jedes Kind. „Wenn das gelingt und die Bedürfnisse der Kinder in den ersten Lebensjahren erfüllt werden, hat man später viel ausgeglichenere Elf- und Zwölfjährige.“
Ist Luxemburg noch kinderrechtskonform?
Die Probleme sind nicht erst seit der Studie bekannt. Dennoch unternimmt Minister Claude Meisch nichts. In der Kinderrechtskonvention (Artikel 3, Kindeswohl) steht, „dass bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt ist, der vorrangig zu berücksichtigen ist“. Zudem sind er als Bildungsminister und die ganze Regierung laut der Kinderrechtskonvention verpflichtet, „den Schutz und die Fürsorge zu gewährleisten, die zum Wohlergehen der Kinder notwendig sind und zu diesem Zweck alle geeigneten Gesetzgebungs- und Verwaltungsmaßnahmen zu treffen“.
Mit dem aktuellen Gesetz, dem Personalschlüssel und manchen Entscheidungen des Bildungsministeriums stehen wir - je nach Lesart von Artikel 3 - nicht mehr im Einklang mit der Kinderrechtskonvention.
Tom Nero
Ist Luxemburg angesichts der Zustände, wie sie viele Kinder erleben und wie sie von besorgten Betreuern, Lehrern und Eltern tagtäglich beobachtet und geschildert werden, noch kinderrechtskonform? Tom Nero hat darauf eine klare Antwort: „In der Konvention steht ganz klar, dass der Staat alle notwendigen Mittel zur Verfügung stellen muss, um das Kindeswohl jederzeit zu gewährleisten. Mit dem aktuellen Gesetz, dem Personalschlüssel und manchen Entscheidungen des Bildungsministeriums stehen wir - je nach Lesart von Artikel 3 - nicht mehr im Einklang mit der Kinderrechtskonvention.“
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