Aloyse Marx über die Architektur unserer Ernährungssicherheit
Aloyse Marx über die Architektur unserer Ernährungssicherheit
Von Aloyse Marx *
Mit dem ersten abgegebenen Schuss in der Ukraine ist eine geschichtliche Zeitenwende eingeläutet worden. Strategisch wichtige Bereiche wie Verteidigung und Energieversorgung werden durch entsprechende Bündnisse gestärkt, um effizient, autark und unabhängiger von Drittstaaten zu werden.
Die Landwirtschaft ist ebenfalls ein strategisch essenzieller Bereich. In dieser Beziehung ist es wichtig, unsere eigene Geschichte zu kennen, damit wir sie nicht zu wiederholen brauchen.
In der Ernährung hatte Europa nämlich bereits Ende der 1950 Jahre, durch die Gründung der Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik (GAP), eine Zeitenwende beschlossen und umgesetzt. Diese Initiative mündete in eine abgesicherte europäische Lebensmittelversorgung (1).
Es kann nur das gegessen werden, was auch erzeugt wird.
Die Erzeugung von Agrarprodukten passiert in zwei Dimensionen; einer strategischen sowie einer konjunkturellen Dimension.
Die strategische Dimension bedeutet, dass in Europa verschiedene Regionen, aufgrund ihrer natürlichen Voraussetzungen, in der Lage sind, mehr Nahrungsmittel zu erzeugen als für ihre Region benötigt werden. Hochwertige Böden in Europa wie das Pariser Becken, die rumänischen Schwarz-Erde-Regionen oder die Ukraine erzeugen pflanzliche Erzeugnisse für Europa und die Welt. Fruchtbare Böden sind die Grundvoraussetzung für die Erzeugung pflanzlicher Lebensmittel.
Die weniger fruchtbaren Böden, wie Mittelgebirgslagen, sind im Wesentlichen mit Gras bewachsen und liefern daher nicht direkt Lebensmittel für den Menschen. Diese Regionen sind nur durch sogenannte Wiederkäuer, zum Beispiel Rinder oder Schafe, zu bewirtschaften und sind deswegen in der strategischen Dimension Standorte, wo im Wesentlichen Milch und Fleisch erzeugt werden können. Luxemburg ist ein solcher Grünlandstandort und als solcher eine strategische Region für tierische Erzeugnisse innerhalb von Europa, auf der gleichen Ebene wie die Ukraine es darstellt für pflanzliche Erzeugnisse.
Diese strategische landwirtschaftliche Erzeugung stellt die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln dar und ist damit ein wenig vergleichbar mit dem, was man in der Stromversorgung die Grundlast nennt.
In der konjunkturellen Dimension werden Lebensmittel erzeugt, welche eine emotionale Bindung des Verbrauchers zu dem Produkt hervorrufen. Biolandwirtschaft, regionale und lokale Erzeugung usw. Sie orientiert sich eher an der lokalen Nachfrage. Ihre Erzeugung und Vermarktung sind kostenintensiver und aus diesem Grund anfälliger für konjunkturelle Schwankungen.
Drei Hebel sind wichtig
Die drei fundamentalen Hebel, über welche die Leistung der Landwirtschaft in beiden Dimensionen gesteuert wird, sind Know-how, Energie und Technik. Jeder Einfluss auf diese drei Hebel hat Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit.
Das Wissen in den Köpfen der Frauen und Männer in den landwirtschaftlichen Familien stellt ein strategisches Kapital dar, welches es erlaubt, mit Tieren, Pflanzen und dem Boden das zu erzeugen, was Millionen von Menschen täglich als Lebensgrundlage brauchen. Verloren gegangenes Wissen in der Landwirtschaft wieder zu ersetzen wird, wenn überhaupt, Generationen in Anspruch nehmen.
Energie ist gebunden in der Herstellung von Gebäuden und Maschinen, in Strom und Treibstoff sowie in Futtermitteln, Düngemitteln und anderen Betriebsmitteln. Die verfügbare Technik bietet die Möglichkeit, eine hohe Produktivität zu erreichen und zunehmend ressourcenschonender Lebensmittel zu erzeugen.
Die strategischen Regionen kennzeichnen sich dadurch aus, dass sie, das notwendige Fachwissen und die Technik vorausgesetzt, mit wesentlich weniger Energieaufwand eine bestimmte Kategorie Agrarerzeugnisse herstellen können als andere Regionen. Aufgrund des Konflikts in der Ukraine ist der Faktor Energie nun zum Unsicherheitsfaktor geworden. In der Folge dessen erleben wir derzeit weltweit eine Stagnierung der landwirtschaftlichen Erzeugung und unter anderem deswegen steigende Lebensmittelpreise.
Niemand hat den Schuss gehört
Somit wurde durch den Ukrainekonflikt auch im sprichwörtlichen Sinn ein Schuss abgegeben, den aber bis jetzt augenscheinlich niemand in der Politik gehört zu haben scheint.
Ziel der Politik sollte es nämlich sein, die Agrarerzeugung in den strategischen Regionen zu stärken und nicht zu schwächen.
Das Ziel der Politik sollte es nämlich sein, die Agrarerzeugung in den strategischen Regionen zu stärken und nicht zu schwächen, weil die Energieeffizienz in diesen Regionen für die Erzeugung eines spezifischen Agrarproduktes am höchsten ist und deswegen proportional zur erzeugten Menge am wenigsten Energie benötigt wird.
Das kommende Agrargesetz und der nationale Strategieplan wären eigentlich die prädestinierten legislativen Rahmengesetze, um diese Aufgabe zu übernehmen.
Dramatisches Missverständnis in der Politik
Es prallen allerdings offensichtlich zwei grundlegend unterschiedliche Interpretationen von nachhaltiger Landwirtschaft aufeinander. Die Politik möchte die landwirtschaftliche Erzeugung pauschal reduzieren, frei nach dem Motto weniger Erzeugung bedeutet weniger Umweltbelastungen. Davon geht die Gefahr aus, dass die Erzeugung von Lebensmitteln in Regionen des Globus verlagert wird, wo Umweltaspekte weniger berücksichtigt werden und wir abhängiger werden.
Die landwirtschaftlichen Organisationen verfolgen den Ansatz, dass die Umwelteinflüsse auf Ebene der landwirtschaftlichen Betriebe berechnet werden sollen und gemäß einem Fußabdruckmodell auf das betreffende erzeugte Produkt umgelegt werden. Dieses Vorgehen bietet die Möglichkeit, über Anreizsysteme messbare Verbesserungen zu erreichen. Auch sind direkte Vergleichsmöglichkeiten zwischen einzelnen Betrieben und Regionen gegeben. Dies alles fördert das Wissen in der Landwirtschaft.
Vom Kommandostand auf die Zuschauerbank
Die Politik täte gut daran, Ihre derzeitige Einstellung zu überdenken. Zögert sie Ihren Kurswechsel zu lange hinaus, geht sie ein nicht unerhebliches Risiko ein, sich selbst vom Kommandostand auf die Zuschauerbank zu katapultieren. Das passiert nämlich ab dem Moment, wo Umweltleistungen wirkungsvoll über die Absatzkanäle der landwirtschaftlichen Vermarktungsorganisationen gesteuert werden.
Im Molkereibereich stehen wir, durch die Einführung eines Nachhaltigkeitsanreiz-Modells, kurz vor diesem Schritt. Dieses wird den Milcherzeugern im Wesentlichen auf Basis eines Katalogs von umgesetzten umweltrelevanten Maßnahmen beziehungsweise Daten aus ihrem Betrieb, die Möglichkeit bieten, über ein Punktesystem die Umwelt zu entlasten und parallel Ihr Einkommen zu steigern.
Damit erhält der Landwirt die Wahl, welches Modell, ein rückwärtsgewandtes aus der Politik oder ein lösungsorientiertes aus der Vermarktung, ihm die besseren Perspektiven bietet. Sinnvoller wäre es allemal, wenn politische Instrumente und jene aus der Vermarktung aufeinander abgestimmt wären, um das Erreichen von wissensbasierten Umweltzielsetzungen zu beschleunigen. Je eher, desto besser.
* Der Autor ist Präsident des Fraie Letzebuerger Bauereverband (FLB)
(1) Artikel in der Rubrik „Analyse und Meinung“ (3.2.2018): „Es geht um die Ernährung“.
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