Das Zusammenleben soll die Integration ersetzen
Das Zusammenleben soll die Integration ersetzen
Integration war gestern, heute soll das interkulturelle Zusammenleben gefördert werden. Von Familien- und Integrationsministerin Corinne Cahen (DP) zum verstaubten Anachronismus vergangener Zeiten degradiert, soll das Wort Integration nicht mehr als Maßstab für das Zusammenleben der Kulturen hierzulande geltend gemacht werden. Das ist bereits am Titel des neuen Gesetzesentwurfs zum „vivre-ensemble interculturel“ erkennbar. Der Text, den Ministerin Cahen am Dienstag präsentierte, soll nun das alte Integrationsgesetz von 2008 obsolet machen.
Dass der Entwurf erst gegen Ende dieser Legislaturperiode der Chamber vorgelegt werden soll, liegt vor allem daran, dass sie eine wahre Herkulesaufgabe war. Zivilgesellschaft, Gemeinden, Ausländerrat, Integrationskommissionen - alle relevanten Akteure wurden mit ins Boot geholt und konsultiert, um das neue Gesetz nach den Vorstellungen des „terrain“ zu formen. „Was die Zivilgesellschaft zu sagen hat, ist mir sehr wichtig. Sie äußern sich nicht nur, um etwas zu sagen oder um dem Ministerium zu gefallen. Sie sind grundehrlich und wissen, was in der Praxis gebraucht wird“, lobte Ministerin Cahen den Einsatz der Zivilgesellschaft.
Zu Recht - denn mit dem neuen Gesetzestext geht nämlich ein Paradigmenwechsel einher, der von vielen Organisationen seit Jahren gepredigt wird: Das Zusammenleben betrifft alle hier im Land. Sowohl Nicht-Luxemburger als auch Luxemburger. Vorbei sind nun die Zeiten, als im ersten Satz des Integrationsgesetzes von 2008 noch stand „La présente loi s’applique à tous les étrangers séjournant légalement au Grand-Duché de Luxembourg.“
Grenzgänger und Luxemburger müssen ebenso am Zusammenleben mitwirken
„Wir sind von dem Begriff weggekommen. Integration impliziert, dass eine Gruppe sich der anderen anpassen muss. Es müssen aber alle partizipieren, um das Land aufzubauen und mitzubestimmen, wo es hingeht“, bekräftigt Jacques Brosius, einer der Autoren des neuen Gesetzestextes aus dem Integrationsministerium, den Paradigmenwechsel. Dieser schlägt sich vor allem auf den ersten Blick auf die Begrifflichkeiten der verschiedenen Instrumente für das Zusammenleben aus: aus den „Commissions consultatives communales d'intégration“ (CCCI) werden nun „Commissions communales du vivre-ensemble interculturel“, der nationale Aktionsplan für Integration wird zum „plan d'action national du vivre-ensemble“ …
Doch bei den bloßen Begrifflichkeiten ist es nicht geblieben. Wer sich am interkulturellen Zusammenleben aktiv beteiligen möchte, dem steht nun die Möglichkeit offen, den „pacte citoyen“ zu unterzeichnen: ein moralisches Engagement, mit dem sich dazu verpflichtet wird, die Werte des Zusammenlebens zu respektieren. Vor allem bietet er Zugang zum „Programme du vivre-ensemble interculturel“. Dieses ersetzt vorige Instrumente, wie den „Contrat d'accueil et d'intégration“ (CAI) und den „Parcours d'intégration accompagné“ (PIA). Während ersteres für Grenzgänger nicht zugänglich und letzteres rein für BPI (bénéficiaire de protection internationale) und DPI (demandeur de protection internationale) bestimmt war, soll das neue Programm offen für alle sein - auch für Luxemburger.
Der eine verliert seine Zeit, der andere kommt nicht nach. Das soll sich ändern, indem wir uns an die individuellen Bedürfnisse der Menschen anpassen.
Familien- und Integrationsministerin Corinne Cahen (DP)
„Wir können nicht mehr einfach sagen, Flüchtlinge brauchen das eine und die anderen etwas anderes“, erklärt Cahen die Entscheidung, CAI und PIA aufzulösen. „In Kursen des PIA saß manchmal ein Doktor neben einem, der nie in die Schule gegangen ist. Der eine verliert seine Zeit, der andere kommt nicht nach. Das soll sich ändern, indem wir uns an die individuellen Bedürfnisse der Menschen anpassen.“
In den verschiedenen Modulen des neuen Programms sollen somit unter anderem der Informationszugang und Orientierung im alltäglichen Leben im Lande, Basiswissen in Geschichte, Geografie und über das politische System vermittelt werden. Zudem können Teilnehmer des Programms Sprachkurse besuchen, durch die sie das Sprachniveau A.1.1 in einer der Landessprachen erreichen können.
Subventionen für Gemeinden, die den „pacte communal du vivre-ensemble interculturel“ unterschreiben
Auf Gemeindeebene soll der „pacte communal du vivre-ensemble interculturel“ die Gemeinden auf dem Weg begleiten, den nationalen Aktionsplan umzusetzen. Sechs Jahre soll es nach Unterschrift der Gemeinde gelten. Danach wird gemeinsam mit dem Ministerium die Arbeit des „comité de pilotage“ des Paktes in den jeweiligen Gemeinden ausgewertet und angepasst. Eingang in das Komitee sollen unter anderem zwei Mitglieder aus zivilgesellschaftlichen Organisationen finden.
Begleitet soll das Komitee zudem von einem „conseiller au vivre-ensemble interculturel“ werden, ein staatlicher Mitarbeiter, der vom Integrationsministerium ausgewählt wird, Gemeinden und Komitees bei ihrer Arbeit zu beraten. 30.000 Euro im Jahr wird der Berater einer Gemeinde im Jahr kosten - eine Summe, die vom Ministerium in Form einer Subvention übernommen wird. Zwischen 3.000 und 8.000 Euro im Jahr werden den Gemeinden zudem je nach Größe ihres Gemeinderates zur Verfügung gestellt, um den Pakt des Zusammenlebens durchzusetzen. Ebenso eine Subvention in Höhe von fünf Euro pro Einwohner und Grenzgänger, die in der Gemeinde einer Arbeit nachgehen, wird den Gemeinden in Aussicht gestellt.
Für Aufsehen könnte auf Gemeindeebene zudem die Entscheidung sorgen, in jeder Gemeinde eine „Commission communale du vivre-ensemble interculturel“ zu schaffen. Diese sollen die bisherigen CCCI ersetzen. Ihre Mission: Prioritäten des Zusammenlebens identifizieren und den Informationszugang für mehr Bürgerbeteiligung verbessern. Die Asti forderte am Dienstag allerdings die Abschaffung dieser Gremien in den Gemeinden. Diese seien reine „Alibi-Kommissionen“, so die Asti.
Conseil national des étrangers (CNE) funktionierte nur „ein bisschen“
Von Ministerin Cahen als Herzstück des neuen Gesetzesentwurfs auf nationaler Ebene bezeichnet, soll zudem der Conseil national des étrangers (CNE) nun der Vergangenheit angehören. Ersetzt wird er vom „Conseil supérieur du vivre-ensemble interculturel“. Vom bisherigen CNE sei die Ministerin nur mäßig begeistert. Das CNE habe vor neun Jahren „gar nicht funktioniert“ und seitdem „ein bisschen“, gab Cahen zu bedenken. Man wolle somit eine Instanz mit engagierten Menschen schaffen, die Ausländer repräsentieren, statt Mitgliedern, die rein „in einem Gremium sitzen wollen“ oder „Gewerkschaftsarbeit“ von innen leisten. Welche Nationalitäten im neuen Conseil supérieur vertreten sind, soll zudem weniger Gewicht als bisher zugesprochen werden.
Integration impliziert, dass eine Gruppe sich der anderen anpassen muss. Es müssen aber alle partizipieren, um das Land aufzubauen und mitzubestimmen, wo es hingeht.
Jacques Brosius, Integrationsministerium
Von den 30 Mitgliedern des neuen Conseil supérieur werden 16 demokratisch von den Gemeindekommissionen für das interkulturelle Zusammenleben gewählt, die weiteren 14 bestehen aus sechs Staatsvertretern, sechs Organisationen aus der Zivilgesellschaft und zwei vom Gemeindesyndikat Syvicol. Ziel des neu gegründeten Ausländerrates wird es sein, Minister und Regierung zu beraten, und ihre Meinung zu staatlichen Initiativen zu äußern, die das Zusammenleben fördern sollen. Zudem kann die Instanz Untersuchungen, Analysen oder Studien selbstständig durchführen, was mit CNE bis dato nicht der Fall war.
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