Das Einwohnerwahlrecht als Normalität
Das Einwohnerwahlrecht als Normalität
Von Christoph Bumb
"Wer hier lebt, arbeitet und Steuern zahlt, soll auch auf politischer Ebene mitreden können" - Unter anderem mit diesem Argument sprechen sich die Befürworter des Ausländerwahlrechts für ein Ja bei der entsprechenden Frage beim Referendum am 7. Juni aus. Der Satz erinnert an die Parole der amerikanischen Unabhängigkeitskämpfer, die im späten 18. Jahrhundert mit der Forderung "No taxation without representation" ihr Recht auf Selbstbestimmung einforderten.
So nachvollziehbar, fast schon selbstverständlich sich das Argument auch anhört, ist das Wahlrecht für Ausländer auf der Welt eindeutig die Ausnahme. Nur vier der aktuell 193 anerkannten Staaten der Welt (also rund zwei Prozent aller Staaten) ermöglichen ihren ausländischen Mitbürgern die politische Partizipation auf nationaler Ebene: Chile, Uruguay, Malawi und Neuseeland.
Wahlrecht schon nach zwei Jahren Residenzdauer
All diese Staaten haben dabei unterschiedliche Gründe für die Einführung des nationalitätsunabhängigen Wahlrechts, und auch die gesetzlichen Voraussetzungen variieren. So wird in Chile eine Residenzdauer von fünf Jahren vorgeschrieben, in Malawi sieben Jahre und in Uruguay 15 Jahre.
Neuseeland geht in dieser Hinsicht am weitesten: Bereits nach zwei Jahren hat man als "permanent resident" die Möglichkeit, bei Parlamentswahlen mitzustimmen. In allen vier Ländern beschränkt sich die Öffnung allerdings auf das aktive Wahlrecht; das heißt, Ausländer dürfen wählen, können bis heute aber nicht als Abgeordnete ins Parlament gewählt werden.
Im Jahre 1975 wurde in Neuseeland das Wahlrecht für prinzipiell alle Einwohner eingeführt. Seit 1993 gilt dabei die Voraussetzung, dass man als wahlberechtigter "permanent resident" mindestens zwei Jahre ununterbrochen im Land gelebt haben muss. Und nicht nur beim Einwohnerwahlrecht war Neuseeland früh dran; bereits Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Zensuswahlrecht faktisch abgeschafft, 1893 folgte das Wahlrecht für Frauen.
Einwohnerwahlrecht in Neuseeland ein "non-issue"
Für viele Neuseeländer ist das Ausländerwahlrecht kein Streitthema. "Unsere Erfahrung zeigt, dass die Entkoppelung des Wahlrechts von der Nationalität völlig unkontrovers sein kann", sagt Caroline Sawyer, Rechtswissenschaftlerin an der Universität in Wellington. Sawyer war vor einigen Wochen im Rahmen eines Kolloquiums der Uni Luxemburg im Großherzogtum, um über das neuseeländische Modell zu referieren. Dabei prägte sie das Wort des neuseeländischen Ausländerwahlrechts als "non-issue".
Als klassisches Einwanderungsland beherbergt Neuseeland Dutzende verschiedene Nationalitäten und Kulturen. Knapp 100.000 Menschen nimmt das als besonders offen und fortschrittlich geltende Land jedes Jahr auf. Der Ausländeranteil liegt aktuell bei rund 25 Prozent. Mehr als die Hälfte davon stammt aus anderen Commonwealth-Staaten, insbesondere aus England und Australien. Hinzu kommt aber eine stetig wachsende Gemeinschaft von Immigranten aus asiatischen Staaten wie China oder Indien sowie aus anderen Südseeinseln.
"Überbleibsel aus der kolonialen Vergangenheit"
Der Fakt, dass in Neuseeland heute unzählige unterschiedliche Kulturkreise zusammenleben, werde von ihren Landsleuten fast ausschließlich als positive Eigenschaft wahrgenommen und auch nach außen so verkauft, so Sawyer. Die Besonderheit liege aber darin, dass die große Mehrheit der Zugewanderten aus einem bestimmten, nämlich dem britisch-europäischen Kulturkreis stammt.
Neuseeland hat sich in diesem Sinn gewissermaßen an dem britischen Modell orientiert, denn auch in England sind Angehörige eines Commonwealth-Staates bei Nationalwahlen wahlberechtigt. Das neuseeländische Modell sei demnach "weniger ein Akt des Fortschritts als ein Überbleibsel aus der kolonialen Vergangenheit", sagt Sawyer.
Definition des Wahlrechts "eher geografisch"
Die heutige Praxis resultiere demnach aus der Tradition des britischen Rechtskonzepts des "formal belonging", also der monarchisch-imperialen Idee, dass all jene zur Gemeinschaft des Empire dazugehören, die in dessen Machtbereich geboren wurden. Neuseeland ging aber einen Schritt weiter und öffnete das Wahlrecht für alle ausländischen Mitbürger, also auch wenn sie nicht aus dem historisch verwandten Machtbereich des Commonwealth stammen.
"Die Nationalität spielt bei uns nicht so eine große Rolle", bringt es Sawyer auf den Punkt. Das Wahlrecht und damit eigentlich das gesamte Staatsbürgertum verstehe man mittlerweile "eher geografisch als national". Damit habe ihr Land im Grunde die Idee des "demos", also des politisch berechtigten Volkes neu definiert, erläutert die Juristin.
Pragmatischer Umgang mit der Wahlrechtsfrage
Man sei sich bewusst, dass man sich damit grundlegend von den meisten anderen "westlichen" Staaten unterscheide. Aber auch das sei für die seit jeher multikulturelle Gesellschaft Neuseelands mehrheitlich kein großes Thema und schon gar kein Grund, das eigene Modell in Frage zu stellen.
Auf die Frage, inwiefern Neuseeland mit Luxemburg vergleichbar sei, und, ob man sich hierzulande gar am neuseeländischen Modell orientieren könne, wollte sich Sawyer übrigens nicht einlassen. Jedes Land müsse seinen eigenen Weg finden. Sie sagt aber auch, dass die Frage des Wahlrechts "pragmatischer und differenzierter" zu beantworten sei, als es viele Anhänger des modernen Nationalstaats und entsprechenden Souveränitätskonzepts denken. Bis das Ausländerwahlrecht aber in Europa zum selbstverständlichen, weil tagtäglich gelebten "non-issue" wird, wird es wohl noch einige Zeit dauern.
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