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Atomkraft – Wem nützt das Spiel mit der Angst?
Politik 5 Min. 26.03.2023
Analyse und Meinung

Atomkraft – Wem nützt das Spiel mit der Angst?

Man sollte in einer vorurteilsfreien Diskussion etwas ehrlicher umgehen mit Punkten wie Versorgungssicherheit, Umweltverträglichkeit, Klimaschutz, Risiken sowie Bezahlbarkeit einer zukunftsfähigen Energiestrategie, so der Autor.
Analyse und Meinung

Atomkraft – Wem nützt das Spiel mit der Angst?

Man sollte in einer vorurteilsfreien Diskussion etwas ehrlicher umgehen mit Punkten wie Versorgungssicherheit, Umweltverträglichkeit, Klimaschutz, Risiken sowie Bezahlbarkeit einer zukunftsfähigen Energiestrategie, so der Autor.
Foto: dpa
Politik 5 Min. 26.03.2023
Analyse und Meinung

Atomkraft – Wem nützt das Spiel mit der Angst?

Hat die Green Finance mit Wind und Solar Vorrang vor dem Schutz der Biodiversität sowie der Lebensqualität? fragt sich der Autor.

Von Paul Heinen *

Am 8. Februar berichtete das „Luxemburger Wort“ über die vortägige Energie-Debatte in der Chamber. Abgeordnete sowie Energieminister Claude Turmes (Déi Gréng), beschäftigten sich voller Sorge mit der Renaissance der Atomkraft, vornehmlich in Frankreich. 

Luxemburgs Politik schielt lieber nach Deutschland. Neben dem deutschen Ausnahmeweg gibt es indes weltweite Innovationen, die hoffnungsvoll stimmen, dass die Substitution der fossilen Energien in einigen Jahrzehnten auch in einer industrialisierten Welt gelingen kann. In Luxemburg bevorzugt man aber augenscheinlich eher ein Spiel mit der Angst, in der unsere Gesellschaft gefangen scheint. Deshalb ist es wichtig, sich mit der Realität auseinanderzusetzen. 

Hierbei geht es keineswegs um ein undifferenziertes Plädoyer für Frankreichs Energiepolitik. Man sollte in einer vorurteilsfreien Diskussion aber etwas ehrlicher umgehen in puncto Versorgungssicherheit, Umweltverträglichkeit, Klimaschutz, Risiken sowie Bezahlbarkeit einer zukunftsfähigen Energiestrategie.

So macht sich DP-Abgeordneter Gusty Graas Sorgen um die Betriebssicherheit der französischen Atomkraftwerke. Zitat aus dem „Wort“-Artikel: „Graas wies gestern in der Chamber auf eine Reihe Korrosionsprobleme hin. 44 der 56 französischen Reaktoren seien dennoch wieder am Netz.“


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Frankreich prüft den Bau von deutlich mehr Atomkraftwerken
Frankreich prüft den Bau von mehr als 14 neuen Atomkraftwerken bis zum Jahr 2050 - mehr als bisher angekündigt. Auch Laufzeiten werden überdacht.

Angesichts dieser Formulierung könnte man annehmen, dass heute tatsächlich Atomkraftwerke mit Korrosionsproblemen betrieben werden. Tatsache ist, dass die Autorité de sureté nationale (ASN) bei Kenntnis der Probleme unverzüglich sämtliche Atomkraftwerke des betroffenen Typs vom Netz nehmen ließ und jedes einzelne Kraftwerk erst wieder ans Netz ging, nachdem die notwendigen Kontrollen beziehungsweise Arbeiten erfolgreich durchgeführt wurden. Hier trifft das Schüren einer diffusen Angst auf die Realität, in der hohe Sicherheitsstandards die Regel sind.

Des Weiteren wird im „Wort“-Artikel Dan Biancalana zitiert. Der LSAP-Abgeordnete gibt zu bedenken, dass 2015 entschieden wurde, 14 der 56 Reaktoren zu schließen und es 2021 zu einer Kehrtwende gekommen sei und jetzt neue Reaktoren gebaut werden. Hier müsste jedoch hinzugefügt werden, wie es zu dieser Entwicklung kam. 

Zum einen wird aus den aktuellen Expertenanhörungen einer Enquete-Kommission der Assemblée nationale ersichtlich, dass die Schließung der 14 Reaktoren eine rein politische Entscheidung war, ohne nachvollziehbaren technischen oder wirtschaftlichen Hintergrund. Zum anderen wird im Bericht „Stratégie nationale bas-carbone“ (Ministère de la transition écologique et solidaire, März 2020) eingeräumt, dass die Schließung der Atomkraftwerke den kurzfristigen Bau von etwa 20 Gaskraftwerken erfordert hätte, trotz Ausbau regenerativer Energiequellen, und dass dies somit zu einem starken sowie nachhaltigen Zuwachs der Treibhausgase führt.

Beim Klimaschutz ist tatsächlich weniger der Ausbau von Wind und Solar ausschlaggebend, sondern vielmehr der Mix der steuerbaren Kraftwerke, die das Stromnetz im Gleichgewicht halten müssen.

Beim Klimaschutz ist tatsächlich weniger der Ausbau von Wind und Solar ausschlaggebend, sondern vielmehr der Mix der steuerbaren Kraftwerke, die das Stromnetz im Gleichgewicht halten müssen. Dieser Sachverhalt wird durch die aktuellen Ereignisse bestätigt. Die statistischen Daten dazu liefert das Fraunhofer-Institut: Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland konnte der Wind- und Solarstrom von 2021 auf 2022 einen Zuwachs − größtenteils wetterbedingt − von immerhin 13 Prozent verzeichnen. Dennoch stieg in beiden Ländern die globale CO2-Intensität der Stromproduktion: in Frankreich von circa 50 auf 70 g CO2/KWh, in Deutschland von circa 410 auf 440 g CO2/KWh (gemäß IPCC-Emissionsfaktoren der verschiedenen Kraftwerkstypen über den globalen Lebenszyklus).

Deutschland oder Frankreich

In Deutschland verhagelte die Schließung der Hälfte der verbliebenen Atomkraftwerke und die dadurch vermehrte Kohleverstromung die CO2-Bilanz. In Frankreich fiel der Nuklearanteil wegen des reduzierten Betriebs von circa 71 auf 65 Prozent bei gleichzeitigem Anstieg der Gasverstromung von circa sechs auf zehn Prozent. Obwohl der Anteil von Wind und Solar an der Stromproduktion in Deutschland über dreimal höher liegt als in Frankreich, übertrifft die deutsche CO2-Intensität die französische jedoch um eine ganze Größenordnung.

Wie ordnet nun Energieminister Turmes diesen Sachverhalt ein? Zitat aus der Chamber-Debatte: „In Luxemburg sind wir realistischer. Wenn man schneller im Klimaschutz weiterkommen will, muss man in Solar- und Windenergie investieren.“

Dieser Weg wäre laut Energieminister Turmes kostengünstiger und sicherer. Er bestätigt dann auch die luxemburgische Investition in eine dänische „Energieinsel“ und bedauert gleichzeitig Frankreichs Investitionen in neue Atomkraftwerke. Es ist klar, dass die Kosten beim Pilotprojekt Flamantville völlig aus dem Ruder liefen, nachdem Frankreichs zaudernde Energiepolitik der vergangenen Jahrzehnte diesen industriellen Sektor samt Zulieferer hat ausbluten lassen, Kompetenzen bei Planung, Organisation und Bau weitestgehend verloren gingen und jetzt wiederhergestellt werden mussten.

Wenn man aber − sogar bei diesem Extrembeispiel − die von EDF im Dezember 2022 aktualisierten Baukosten auf die globale Stromproduktion von über 700 TWh bezieht (1.600 MW Leistung, 80 bis 90 Prozent Volllaststunden, 60 Betriebsjahre), so liegen diese immer noch bei nur einem Drittel der auf die Stromproduktion bezogenen Investitionskosten des kürzlich eröffneten Offshore-Windparks von Saint-Nazaire, der mit Baukosten von zwei Milliarden Euro und einer jährlichen Stromproduktion von voraussichtlich 1,6 TWh nach 20 bis 25 Betriebsjahren auf eine Produktion von etwa 30 bis 40 TWh kommt.

Ein stabiles Netz braucht steuerbare Kraftwerke. Fossiles Gas wird in den nächsten Jahrzehnten immer knapper werden und erschwinglicher CO2-freier Wasserstoff in ausreichenden Mengen beruht wegen der enormen Nutzungskonkurrenz auf dem Prinzip Hoffnung. Das Beispiel der deutschen Energiewende mit Wind und Solar hat gezeigt, dass die Abkehr von der Nuklearenergie in der Konsequenz zu mehr Kohleverstromung führt.

Das Kohlerisiko

Wie stellt sich nun in diesem Kontext die vom Energieminister aufgeworfene Frage der Sicherheit und Risiken? Obwohl gewusst ist, dass die Kohleverstromung in der EU jährlich zu über 20.000 vorzeitigen Todesfällen durch Luftverschmutzung (Feinpartikel) führt, jedoch kein Todesfall hier durch Atomkraftwerke zu beklagen ist, nimmt die Politik das Kohlerisiko in Kauf.

Ähnlich verhält es sich bei der Lagerung der nicht mehr recycelbaren, mittel- bis hochaktiven, langlebigen Abfallprodukte der Atomverstromung: Dies ist kein technisches, sondern eher ein gesellschaftspolitisches Problem, das in Finnland mit Beteiligung der finnischen Grünen gelöst ist. In Frankreich ist ebenfalls ein Lager in geologischen Tiefen in Planung, für das jährlich von der Größenordnung her einige hundert Tonnen Abfallprodukte anfallen (ANDRA-Inventar). Diese Menge ist relativ überschaubar angesichts der insgesamt über zehn Millionen Tonnen an toxischen Abfällen in Frankreich, die zu je einem Drittel verbrannt, recycelt oder gelagert werden (Ministère de la Transition écologique). 


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Sind wir also prinzipiell gegen eine Endlagerung von toxischen Abfällen, so müssten wir wieder in eine vorindustrielle Welt zurückzukehren. Sind wir kollektiv dazu bereit? Bezogen auf die jährliche Atomstromproduktion, entstehen für das geplante französische Endlager etwa ein bis zwei Tonnen Abfall pro TWh. Demgegenüber entstehen bei der Kohleverstromung von der Größenordnung her etwa 100 Tonnen Feinpartikel pro TWh, die jedoch nicht in geologischen Tiefen gelagert werden, sondern in der Luft, die wir atmen. Die Treibhausgase der fossilen Kraftwerke werden ebenfalls in die Atmosphäre entsorgt.

Welches der beiden Energiewende-Modelle ist nun nachhaltiger? Hat die Green Finance mit Wind und Solar Vorrang vor dem Schutz der Biodiversität, sowie der Lebensqualität? Durch Ignorieren der Realität werden die Energieprobleme der Zukunft auf jeden Fall nicht gelöst werden können.

* Der Autor ist Ingénieur civil.

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