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15 Jahre Euthanasie-Kontroverse: die große Gewissensfrage
Politik 9 Min. 18.02.2023
Begleitung von Personen am Lebensende

15 Jahre Euthanasie-Kontroverse: die große Gewissensfrage

Vierter Euthanasie-Kontrollbericht mit dem damaligen Präsidenten der Euthanasie-Kontrollkommission und Arzt, Carlo Bock, sowie der Vize-Präsidentin Lotty Prussen, 2019.
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15 Jahre Euthanasie-Kontroverse: die große Gewissensfrage

Vierter Euthanasie-Kontrollbericht mit dem damaligen Präsidenten der Euthanasie-Kontrollkommission und Arzt, Carlo Bock, sowie der Vize-Präsidentin Lotty Prussen, 2019.
Foto: Chris Karaba
Politik 9 Min. 18.02.2023
Begleitung von Personen am Lebensende

15 Jahre Euthanasie-Kontroverse: die große Gewissensfrage

Annette WELSCH
Annette WELSCH
Am 19. Februar 2008 verabschiedete das Parlament in erster Lesung die Gesetze zur Palliativpflege und zur Euthanasie: Rückblick auf heftige Debatten, tiefe Wunden und eine Beinahe-Staatskrise.

15 Jahre ist es her, dass am 19. Februar 2008 im Parlament die Gesetze zur Palliativpflege sowie zu Euthanasie und Beihilfe zum Suizid in erster Lesung verabschiedet wurden. Herrschte Einstimmigkeit über das Palliativgesetz, so war das Ergebnis zur Euthanasie denkbar knapp - und auch unerwartet: 30 Ja-Stimmen, 26 Nein-Stimmen, drei Enthaltungen bei einer Abstimmung ohne Fraktionszwang und mit garantierter Gewissensfreiheit. 


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Jean-Pierre Koepp (ADR) war nicht anwesend und hatte auch keine Prokuration erteilt. Die Grünen und die DP sowie elf LSAP-Abgeordnete und mit Jacques-Yves Henckes ein ADR-Abgeordneter stimmten dafür. Die CSV bis auf Nancy Kemp-Arendt, Gast Gibéryen und Robert Mehlen von der ADR sowie der unabhängige Abgeordnete Aly Jaerling dagegen. Die drei LSAP-Abgeordneten Fernand Diederich, Jos Scheuer und Jean-Pierre Klein enthielten sich. Der Staatsrat entband nicht von der zweiten Abstimmung, was bei einem so umstrittenen Gesetz der Gepflogenheit entspricht.

Zehn Monate später, am 18. Dezember 2008, wurde die Abstimmung während einer denkwürdigen, emotionsgeladenen Debatte bestätigt, wobei es diesmal mit Jean-Pierre Koepps Stimme 31 dafür waren. Zwischen beiden Abstimmungen lagen Unterschriftensammlungen, Mahnwachen, polemische Artikel und öffentliche Kontroversen, die, nachdem klar war, dass sich eine Mehrheit für das Euthanasiegesetz gefunden hatte, Wunden schlugen und so manche Grenze des Erträglichen überschritten.

Vorstoß Lydie Err (LSAP) und Jean Huss (Déi Gréng)

Am 5. Februar 2002 brachten die Abgeordneten Lydie Err (LSAP) und Jean Huss (Déi Gréng) den Gesetzesvorschlag 4909 zum Recht auf Sterben in Würde ein, der später umbenannt wurde in das Gesetz zur Euthanasie und zur Beihilfe zum Suizid. Beide waren aktiv in der „Association pour le droit de mourir dans la dignité“. „Die Parteien akzeptierten den Vorschlag nur, weil er von Vertretern einer Mehrheits- und einer Oppositionspartei kam. Wir waren uns nicht sicher, ob er durchgeht, haben uns aber in unseren Parteien durchgesetzt. Wir erinnern uns beide bis heute gerne an unseren Kampf und sind stolz darauf“, sagt Lydie Err.

Für Err und Huss musste der Gesetzgeber das juristische Vakuum füllen, in dem Euthanasiehandlungen stattfinden. Ihr Gesetzesvorschlag zielt auf Straffreiheit für den Arzt bei Euthanasie und Beihilfe zum Suizid ab, sofern präzise Bedingungen erfüllt sind (s. Info-Box). Hauptargument war, dass die Palliativpflege wohl die physischen Schmerzen lindere, den psychologischen und moralischen Leiden Rechnung trage und sie einer großen Zahl an Patienten erlaube, in Würde zu sterben. Der Palliativansatz allein würde aber nicht jedem garantieren, sein Leben in der Würde beenden, wie er sich das vorstellt. 

Deswegen sei ein legaler Rahmen unabdingbar, der sowohl dem Patienten als auch dem Arzt Sicherheit bietet. Die Euthanasie sei ein zu sensibles Thema, um es allein dem Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patienten zu überlassen. 

Erst Palliativ und nur wenn nötig, später Euthanasie

Lange war gehofft worden, dass sich für das Euthanasiegesetz keine Mehrheit findet. Das Palliativgesetz mache dieses überflüssig, lasst uns erst die Palliativpflege regeln und wenn wir merken, dass es nicht ausreicht, können wir mit einem Euthanasiegesetz nachbessern, wurde im Vorfeld argumentiert. Vor allem die Befürworter der Palliativpflege und katholische Kreise wehrten sich gegen die Vorstellung, dass das Leben eines Menschen vorsätzlich beendet werden dürfe (s. Drei Fragen an). 

Zwar lässt auch das Palliativgesetz zu, dass schmerzlindernde Mittel in einer Dosis verabreicht werden, mit der der vorzeitige Tod in Kauf genommen wird. Das seien Kollateralschäden, die nicht in der Absicht zu töten eintreten, wird angeführt. Gerade diese „terminale Sedierung“, wie sie im Text genannt wird, öffne aber Tür und Tor für den Missbrauch und die Intransparenz, die man mit einem streng geregelten Euthanasiegesetz verhindern möchte, so das Gegenargument.

Unbedingter Lebensschutz - kein Mensch darf das Leben eines anderen absichtlich beenden – traf auf das Recht, gesetzlich gerahmt, selbst über Art und Zeitpunkt des Sterbeprozesses zu entscheiden. Selbstbestimmung über den eigenen Körper und das eigene Leben in Augenhöhe mit dem Arzt traf auf die Vorstellung, dass der Arzt mit all seiner Autorität und im Rahmen seiner Deontologie die Behandlung bestimmt. 

Das führte zu Kontroversen, denn die Palliativmedizin sieht auch lebensverkürzende Handlungen vor, laut Err jedoch ohne klare Regeln und Transparenz. Sie meint: Juristisch seien die terminale Sedierung und die aktive Sterbehilfe gleich zu bewerten – das Euthanasiegesetz sei das Ende von „Hypokrisie und Paternalismus“. Auch ohne Gesetz gab es im Land Sterbehilfe, unkontrolliert und ohne dass gewusst ist, ob der Betroffene diese gewünscht oder der Arzt sie beschlossen hat. 

In die Ecke von Mördern und Faschisten wurden die Befürworter gedrückt, Missbräuche vorhergesagt und vor allem befürchtet, dass Menschen euthanasiert werden, bevor sie eine kostenintensive Palliativpflege in Anspruch nehmen können. 

Emotionale Debatte in der Chamber

Die aufgeheizte Stimmung schlug sich schließlich in der langen Chamber-Sitzung nieder, bei der man Empörung, Wut, Betroffenheit, Zerrissenheit, Schmerz und schließlich Erleichterung, dass die Entscheidung gefallen war, beobachten konnte - seltene Momente im Parlament. Alex Bodry (LSAP) wetterte gegen konservative, katholische Kreise aus dem Ausland, die Sterbehilfebefürworter in die Nähe von Nazis gerückt hatten. Eine Unverschämtheit gegen ihn und vor allem gegenüber seiner Familie, die die Nazis bekämpft habe. „In welcher Zeit leben wir denn?“, schrie er mit hochrotem Kopf. 

Xavier Bettel (DP) brach in Tränen aus - er fühlte sich an seine Großmutter erinnert, die ihre letzten Tage unter unerträglichem Leiden verbrachte. Tränen konnte auch Premier Jean-Claude Juncker (CSV) nicht zurückhalten, der als letzter Redner auftrat und gar nicht vorgesehen war. 

Vor allem Nancy Kemp-Arendt hatte einen schweren Stand. Sie stimmte als einzige von der CSV, die sich in ihrem Wahlprogramm gegen die Euthanasie ausgesprochen hatte, für das Euthanasie-Gesetz. Bereits im Oktober 2007  hatte die gesundheitspolitische Sprecherin Marie-Josée Frank deutlich gemacht: „Wer für Err/Huss stimmt, hat es nicht verdient, länger der CSV anzugehören.“ Sie entschuldigte sich zwar nach heftiger Kritik dafür, musste aber ihren Posten als CSV-Gesundheitssprecherin abgeben. 

„Es war eine ganz schlimme Zeit, das hat mich zehn Jahre meines Lebens gekostet, es hat mir aber nie leidgetan“, sagt Kemp-Arendt heute. „Ich wollte für die Wahlfreiheit kämpfen. Jeder soll bis zum Schluss leben können, aber wenn jemand selber für sich entscheidet, früher zu gehen, hat kein anderer das Recht, ihm diesen Wunsch zu verweigern.“

Es war eine ganz schlimme Zeit, das hat mich zehn Jahre meines Lebens gekostet, es hat mir aber nie leidgetan

Nancy Kemp-Arendt, CSV-Abgeordnete

Sie hat sich auch für Begrenzungen eingesetzt: keine Euthanasie bei unter 18-Jährigen ohne Einverständnis der Eltern und keine bei Personen mit (Alzheimer-)Demenz, wo nicht klar ist, ob der freie Wille geäußert wird. „Ich war voll und ganz überzeugt, dass es einen gesetzlichen Rahmen braucht, aber bis zum letzten Moment wurde versucht, mich umzustimmen. Es sollte sogar ein Parteiausschlussverfahren eingeleitet werden, dabei war Gewissensfreiheit garantiert. Ich wäre aber eher aus der Partei ausgetreten, als meine Meinung zu ändern.“

Verfassungskrise

Damit war die Debatte nicht beendet. Denn mitten in der Finanzkrise bescherte der Großherzog dem Land noch fast eine institutionelle Krise, die in einem Wettlauf mit der Zeit mit einer kurzfristigen Änderung der Verfassung umgangen wurde. Am 2. Dezember 2008 wurde bekannt, dass Großherzog Henri sich weigern würde, das rechtmäßig von den Volksvertretern verabschiedete Euthanasiegesetz gutzuheißen. Da die Zustimmung innerhalb von drei Monaten geleistet sein muss, wurde die Verfassung kurzerhand dahingehend geändert, dass der Großherzog künftig Gesetze nur noch promulgiert – unterschreibt. Die Verfassungsänderung mit ihrer Entmachtung des Staatschefs ging am 13. März 2009 durchs Parlament. Erstmals kam es zu einem öffentlichen Zerwürfnis zwischen dem Staatschef und einem Premierminister. 


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