"Ich kämpfe, bis ich schmelze"
"Ich kämpfe, bis ich schmelze"
(dpa) - Eine Suppe aus Rentier-Augen? Oder ein Eintopf aus dem Blut der Tiere? Was für Menschen aus entwickelten Ländern schräg klingt, ist für die indigenen Völker rund um den Nordpol Überlebensgrundlage. Seit Tausenden Jahren ernähren sie sich von dem, was die Natur und vor allem das Meer ihnen bietet. Diese alte Verbindung zwischen Mensch und Natur droht zu zerbrechen. Der Klimawandel bringt die natürlichen Abläufe durcheinander.
Die Erderwärmung schlägt in der Arktis viel härter zu, als das in gemäßigten Klimabereichen überhaupt vorstellbar ist. Während die Welt um die Einhaltung des sogenannten Zwei-Grad-Zieles kämpft, ist in der Arktis die Temperatur bereits deutlich höher geklettert. Im Januar 2017 haben die Forscher einen Anstieg von fünf Grad im Vergleich zum Durchschnitt der Jahre 1982 bis 2019 gemessen. Das sind Welten.
Das Eis wird dünner, die Walrösser bleiben weg
Ganze Ketten von Problemen werden dadurch ausgelöst. „Wir haben Angst um unsere Nahrungsgrundlage“, sagte Vi Waghivi. Die 58-Jährige setzt sich seit Jahren für die Rechte der Ureinwohner ein. Seit langer Zeit lebt sie in Alaskas Hauptstadt Anchorage. Geboren und aufgewachsen ist sie aber auf der St.-Lorenz-Insel im Beringmeer, an klaren Tagen in Sichtweite zu Russland.
Zwei Dörfer gibt es auf der St.-Lorenz-Insel, Gambell und Savoonga. Rund 1000 Mitglieder der Stammesgruppe der Yupik leben dort. Vi kommt aus letzterem. Die Yupik ernähren sich noch zu 70 bis 80 Prozent auf traditionelle Weise, also im Einklang mit der See. Hauptnahrung: Walrösser. Doch die bleiben mehr und mehr aus. „Das Eis wird immer dünner“, sagt Vi. Die Tiere brauchen die Eiskante, um im Meer zu jagen. Fehlt sie, brechen Jäger und Gejagte ins dünne Meereis ein, die Tiere verenden zum Teil.
Jahrhundertelang wussten die Yupik alles über das Eis. Doch über Generationen vererbtes Wissen zu Wetter und Eisbeschaffenheit zählt nicht mehr. Die Erwärmung macht alles anders. „In einem normalen Winter haben wir 200 Walrosse gefangen, zuletzt zum Teil nur noch fünf“, sagt Vi.
Nicht nur, dass die Ureinwohner Fell und Zähne nicht mehr verwerten und tauschen können: Sie haben schlicht nicht mehr genug zu essen. Sie müssen zukaufen. Drei Bananen kosten in den abgelegenen Gegenden Alaskas zwölf Dollar, eine Doppelpackung Cornflakes zehn Dollar. Die Lebensmittel müssen mühsam mit Buschflugzeugen gebracht werden. Wenn Vi Waghivi von Alaskas Hauptstadt Anchorage aus nach Hause zu ihrer Familie reist, dauert das einen ganzen Tag - und kostet 1000 Dollar.
Der Klimawandel ist längst da
Dazu kommt: Die Nahrungsqualität sinkt. Der schwindende Permafrost lässt etwa über Jahrhunderte im Eis eingeschlossene Bakterien ins Meerwasser und damit in die Nahrungskette geraten. „Unsere Kinder bekommen Lernschwierigkeiten, die Krebsrate steigt“, sagt Vi. Umsiedeln ist für die Menschen in der Arktis keine Alternative. „Das ist Teil unserer Identität“, sagt Vi.
Der Klimawandel in der Arktis und seine Auswirkungen auf den Menschen sind dramatisch. „Meine Freunde in Oregon sagen: Der Klimawandel kommt. Ich sage: Er ist längst da“, sagt Bernadette Dementieff. Sie leitet den Steuerkreis der Gwitschi-Ureinwohner, einer Stammesgruppe die als Nomaden an der Grenze zwischen Alaska und Kanada lebt.
Neue Studien geben ihr Recht. Das Meereis in der Arktis ging in den vergangenen Jahren immens zurück. Die Grünen in Deutschland bezeichnen die Situation der Arktis als ökologisches Desaster und fordern auch die Bundesregierung zum Handeln auf. Die Klimaziele für das Jahr 2050 müssten dringend überprüft werden.
Hoffen auf den Arktischen Rat
Doch die Klimapolitik stockt. Dementieff und ihre Mitstreiter setzen große Hoffnungen auf den Arktischen Rat, der acht Außenminister aus den Arktis-Anrainerstaaten vereint, darunter US-Chefdiplomat Rex Tillerson und seinen russischen Amtskollegen Sergej Lawrow. Die große Frage lautet: Was haben die USA in der Klimapolitik vor?
Präsident Donald Trump setzt weiter auf alte Energien. Er will die Ölförderung, den Pipeline-Bau, die Ausbeutung von Bodenschätzen auch in Alaska fördern. Doch die Finanzwirtschaft warnt: Ölbohrungen in der Arktis sind auf Jahrzehnte hinaus unrentabel, fand jüngst eine Studie des Investmenthauses Goldman Sachs heraus. Den Ureinwohnern bleibt nur abzuwarten. „Ich kämpfe, bis ich schmelze“, sagt Bernadette Dementieff.
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