Die wunderliche Welt der Spinnen
Die wunderliche Welt der Spinnen
Interview: Wolfgang Bäumer
Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Urgeschichte der Achtbeiner, die seiner Ansicht nach mehr Beachtung verdienen, auch in der Wissenschaft. Der 79-jährige Paläoarachnologe hat mehr als 1 500 Arten, darunter viele fossile, entdeckt und beschrieben sowie zahlreiche Bücher publiziert.
Jörg Wunderlich, Forscher befürchten, in den nächsten Jahrzehnten könnten weltweit 40 Prozent aller Insektenarten aussterben. Um die Spinnen sorgt sich keiner. Wie geht es den haarigen Achtbeinern?
Ich kenne keine Langzeitstudien, halte es aber für wahrscheinlich, dass sie in ähnlicher Weise betroffen sind wie die Insekten. Die Zahl der Individuen und der Arten dürfte stark abgenommen haben, zumindest in Mitteleuropa. Das wäre auch nachvollziehbar, schließlich ernähren sich fast alle Spinnen ausschließlich von Insekten.
Die Webspinnen sind die größte Ordnung der Spinnentiere, weltweit kennt man 50 000 Arten. Welche Bedeutung haben sie für den Menschen?
Erstens: Sie tun uns nichts. Fast alle besitzen Giftdrüsen, aber in unseren Regionen gibt es keine Art, die uns umbringen könnte. Weniger als 20 Arten sind gefährlich, und die leben fast alle in den Tropen. Zweitens: Webspinnen sind nützlich. Als Erbeuter vieler Insekten, unter anderem von Stechmücken in Gebäuden kommt ihnen eine große ökologische Bedeutung zu.
Sie sagen, Spinnen seien winzige biologische Wunderwerke.
Ja, sie können Erstaunliches: weben, springen, zittern, tanzen, winken, trommeln, hungern, zischen, Tunnel graben, Taucherglocken bauen, Seide auf Fressopfer speien, kopfunter auf spiegelglatten Flächen krabbeln ohne abzustürzen, sich rotierend in Sicherheit bringen oder Saltos schlagen. Manche laufen auf dem Wasser, andere besitzen Augen, die wie Zoomobjektive funktionieren, etwa die Springspinnen. Fliegen können sie auch, obwohl Spinnen keine Flügel haben. Es gibt sogar Arten, die als Teilveganer leben und Pollen verzehren.
Trotzdem interessiert sich die Forschung kaum für Spinnen ...
Da spielen sicher auch praktische Gründe mit. Spinnen sind weicher gebaut als Insekten. Viele müssen in Alkohol konserviert werden und verlieren dann oft ihre Farbenpracht.
Wie kamen sie zur Paläoarachnologie?
Ich konnte viele Merkmale und Unterschiede anhand der heutigen Arten nicht ausreichend erklären. Wichtige Fragen zur Evolution und Systematik blieben offen, auch die ungewöhnliche Verbreitung einiger Gruppen bereitete mir Kopfzerbrechen. So fing ich an, Versteinerungen und Bernsteineinschlüsse zu untersuchen, wobei mir mehr als 100 000 Spinnen vor allem in Baltischem Bernstein vorlagen. Heute staune ich immer noch über die Dimensionen. Es gibt versteinerte Spinnen, die 300 Millionen Jahre alt sind, es gibt Bernsteineinschlüsse, die 140 Millionen Jahre überdauert haben. Bernstein ist ein wundervolles Material. Unter dem Binokular erkennt man noch die kleinsten Strukturen.
Im vorigen Jahr ist in Burmesischem Bernstein aus Myanmar eine geschwänzte Spinne entdeckt worden ...
Eine sensationeller Fund! Das 100 Millionen Jahre alte Fossil erinnert an einen Skorpion, hat aber keinen Giftstachel, der für Skorpione typisch ist. Nahe der Schwanzwurzel befinden sich gut ausgebildete Spinnwarzen – das wichtigste Merkmal der Webspinnen. Skorpione und Webspinnen müssen also einen gemeinsamen Vorläufer gehabt haben.
Wozu diente der Schwanz?
Möglicherweise war er mit Geruchsrezeptoren ausgestattet und wurde aufgerichtet wie eine Antenne. Auf jeden Fall ist er ein uraltes Merkmal der Spinnentiere. Nach dem Mittelalter wurden keine geschwänzten Vertreter mehr nachgewiesen.
Welche Erkenntnisse liefert die Paläoarachnologie noch?
Während die Vogelspinnen seit 200 Millionen Jahren existieren, sind die Radnetzspinnen, Wolf-spinnen und Springspinnen sehr spät entstanden, nämlich nach dem Asteroideneinschlag vor 65 Millionen Jahren, der zum Aussterben der Dinosaurier und vieler weiterer Tiere und Pflanzen der Kreidezeit führte. Das ist eine brandneue Überraschung für die Wissenschaft, belegt durch Fossilien in Bernstein. Was uns Rätsel aufgibt: Vor mehr als 40 Millionen Jahren lebten im Baltischen Bernsteinwald tropische Spinnen und Urspinnen, die heute auf der Nordhalbkugel ausgestorben sind. Seltsamerweise findet man sie noch auf der Südhalbkugel, in Australien, Südafrika und auf Madagaskar.
Welche Innovationen haben die Spinnen während der Evolution erfahren?
An erster Stelle stehen die vielfältigen Funktionen der Spinnfäden, mit denen raffinierteste Fangnetze gebaut werden. Neben Radnetzen gibt es Speinetze, Wurfnetze und Fußangeln, in denen sich Ameisen verfangen. Dicht gewebte Kokons schützen Spinneneier vor Parasiten. Alle Spinnen produzieren Weg- und Sicherheitsfäden, an denen sie sich nach Abstürzen emporhangeln können. Jungspinnen sind in der Lage, einen Faden in die Luft zu schießen und an diesem Fadenfloß viele hundert Kilometer zu fliegen, um neue Lebensräume zu erschließen. Die enorme Beweglichkeit und das Sprungvermögen vieler am Boden lebender Arten, zum Beispiel der Springspinnen, halte ich auch für eine wichtige Errungenschaft.
Die Zusammensetzung und Verwendung der Spinnfäden verblüfft selbst Ingenieure ...
Gleichwertige Spinnenseide künstlich zu erzeugen, will nicht recht gelingen. Die Evolution hat die Fängigkeit von Fangnetzen auf raffinierte Weise verbessert: mit Klebetröpfchen und mit Fangfäden. Die Radnetzspinnen versehen ihre Spinnfäden mit klebrigem Sekret, das es Beutetieren schwer macht, sich zu befreien. Oft lähmen sie ihr Opfer mit einem Giftbiss, umwickeln es mit Seide und machen ein wehrloses Fresspaket daraus. Anders jene Arten mit Spinnsieb: Ihre Spinndrüsen produzieren Fäden, die mit feinster Fangwolle umhüllt sind, die ähnlich gut haftet wie Klebetröpfchen. Solche Fangfäden können nicht austrocknen, das ist in heißen Regionen ein Vorteil.
Welche Innovationen gab es im Reich der Sinne?
Zum Beispiel Härchen an den Beinen, mit denen viele Spinnen riechen können. Oder die exzellenten Augen der Springspinnen, die Farben unterscheiden, ultraviolettes Licht wahrnehmen, ihre Netzhaut verschieben und dank ihres räumlichen Sehvermögens Beute gezielt anspringen können. Andere Arten können über Becherhaare an den Beinen Luftschwingungen wahrnehmen und Beutetiere und Fressfeinde orten.
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