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Angst vor dem „Venexodus“
Panorama 2 Min. 16.11.2016 Aus unserem online-Archiv
Kampf gegen den Tod der Stadt

Angst vor dem „Venexodus“

Wie viele Touristen verträgt Venedig? Über diese Frage wird seit Jahren diskutiert - bislang ohne verbindliche Ergebnisse.
Kampf gegen den Tod der Stadt

Angst vor dem „Venexodus“

Wie viele Touristen verträgt Venedig? Über diese Frage wird seit Jahren diskutiert - bislang ohne verbindliche Ergebnisse.
Foto: Fern Morbach
Panorama 2 Min. 16.11.2016 Aus unserem online-Archiv
Kampf gegen den Tod der Stadt

Angst vor dem „Venexodus“

Kevin WAMMER
Kevin WAMMER
Venedig lebt und leidet mit dem Tourismus. Wenn Touristen weiter die Einheimischen vertreiben, blutet die Stadt bald komplett aus. Die Einwohner setzen sich zur Wehr.

(dpa) - Dass es in Venedig tatsächlich zu wenig Menschen gibt, kann einem recht seltsam vorkommen. Die Stadt wird überlaufen von Touristen. Aber die ureigenen Einwohner verlassen das Zentrum, verlassen es in Scharen. Innerhalb einer Generation ist die Bevölkerung fast um ein Drittel geschrumpft. Kann eine Stadt das überleben? Die Frage schwebt über der Lagunenstadt wie ein Damoklesschwert, weil steigende Kosten immer mehr Menschen in die Flucht treiben.

Wo sind die jungen Einwohner?

In diesem Monat ist die Zahl der Einwohner auf unter 55.000 gesunken – vor 26 Jahren waren es noch 78.000. Das Bedrohliche: Fast die Hälfte derer, die noch da sind, sind über 60. Junge Menschen muss man fast schon mit der Lupe suchen: nur etwa 9.000 sind unter 18.

„Wir haben 2009 eine „Beerdigung“ für Venedig gehalten, als die Zahl unter 60. 000 gesunken ist. Jetzt sind wir nur noch 55.000 (...) Wenn wir so weitermachen, werden wir zu einer Geisterstadt wie Pompeji“, sagt Matteo Secchi von der Gruppe venessia.com, die sich für das Überleben der Stadt einsetzt.

Der 46-Jährige und andere Einwohner veranstalteten am Samstag unter dem Motto „Venexodus“ (Exodus aus Venedig) eine Prozession von der Rialto-Brücke zum Rathaus. Symbolisch für den Auszug, aber auch für den Massentourismus, hielten sie Koffer in die Luft.

Denn die größte Bedrohung für die lokale Gemeinschaft ist der Tourismus – gleichzeitig ist er aber auch die Haupteinnahmequelle. Die Zahl der Besucher hat sich in den letzten 25 Jahren fast vervierfacht. Und die Stimmung zwischen Touristen und Einheimischen ist oft vergiftet.

Touristenfallen statt Supermärkte

Der Touristenboom hilft Hoteliers und Gondolieren genauso wie Hauseigentümern, die ihre Wohnungen an Ausländer vermieten oder verkaufen. Andere dagegen fühlen sich bedroht, da Wohnungen in Pensionen und Supermärkte in Touristenfallen umgewandelt werden. Wer in einem authentischen Restaurant im Stadtkern essen möchte, kann lange suchen.

„Der Tourismus hat uns kurzfristig reich gemacht, aber er tötet uns langfristig“, sagt Secchi. „Zu viele wollen nicht mehr in dieser Stadt leben, sondern sie ausnutzen wie eine Prostituierte.“

Es gibt aber auch Hoffnungsschimmer. Piero Dri zum Beispiel ist einer der jungen Venezianer, die geblieben sind. Der 33-Jährige stellt die traditionellen Rudergabeln für Gondeln her und verarbeitet sie auch zu Dekorationen. Er ist einer von Vieren, die diese Tradition in Venedig hochhalten.

Gleichzeitig fordern viele eine wirksame Begrenzung des Tourismus'. Dabei bekommen sie auch Unterstützung von der Unesco. Die UN-Kulturorganisation hat damit gedroht, Venedig auf die Liste der bedrohten Kulturgüter zu setzen. „Der ständig steigende Tourismus dominiert und verdeckt die traditionelle städtische Gesellschaft der historischen Stadt“, hieß es schon 2015 in einem Bericht. Stein des Anstoßes sind vor allem die riesigen Kreuzfahrtschiffe, die in Venedig anlegen und nicht nur das Ökosystem der Lagune gefährden, sondern auch die vielen umstrittenen Tagestouristen bringen.

Unter einer Decke?

Bürgermeister Luigi Brugnaro hat der Unesco jedoch eine Absage erteilt. Optionen wie höhere Abgaben für Tagestouristen und für kurzzeitige Vermietungen sowie Schranken, um die Zahl der Besucher zu kontrollieren, liegen lange auf dem Tisch, wurden aber nie in die Praxis umgesetzt.

Paolo Lanapoppi von der Kulturschutzorganisation Italia Nostra ist skeptisch, was die Zukunft der Stadt angeht. „Meine persönliche Meinung ist, dass die Politiker hier mit der Tourismusindustrie unter einer Decke stecken, die überhaupt kein Interesse daran hat, die Zahl der Besucher zu senken.“


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