Wie Luxemburg den Beginn des Ersten Weltkriegs erlebte
Wie Luxemburg den Beginn des Ersten Weltkriegs erlebte
Von Robert Wilmes
Die Schüsse von Sarajewo
Am 28. Juni 1914 werden der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gattin Sophie in Sarajewo von dem serbischen Bosnier Gavrilo Princip erschossen. Obschon der Attentäter österreichischer Nationalität ist und obschon keinerlei Verbindung zwischen ihm und der serbischen Regierung besteht, wird in Wien dem Königreich Serbien die moralische Schuld am Verbrechen angelastet. Von Robert Wilmes
Die Bluttat von Sarajewo löst auch in Luxemburg tiefe Bestürzung aus. Am selben Tag noch, einem Sonntag, verteilt das Luxemburger Wort in der Stadt ein Extrablatt mit folgendem Inhalt: „Sarajewo, 28. Juni Als der Erzherzog-Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gemahlin, die Herzogin von Hohenberg, heute durch die Straßen fuhren, gab ein Individuum aus nächster Nähe mehrere Pistolenschüsse auf sie ab. Beide wurden tödlich getroffen und verschieden nach wenigen Minuten.“
Trauer und Hoffnung
Am Montag, dem 29. Juni, berichten dann sowohl das Luxemburger Wort als auch das Escher Tageblatt ausführlich über das Attentat. Das Thema bleibt eine Woche lang auf den Titelseiten. Dann, am 6. Juli, erscheint die österreichisch-serbische Krise nur noch auf Seite 2 der beiden Zeitungen. Da gleichzeitig der deutsche Kaiser, Wilhelm II., per Schiff von Kiel aus zu seiner jährlichen Nordlandreise aufbricht, entsteht der Eindruck, dass der europäische Frieden nicht ernsthaft in Gefahr sein kann. Der Schein trügt, denn in Wien sind die Falken entschlossen, das Königreich Serbien zu zerschlagen. Mit deutscher Unterstützung werden unannehmbare Forderungen an Belgrad gestellt, und, nach Ablauf eines Ultimatums, erklärt Österreich-Ungarn am 28. Juli Serbien den Krieg. Wort und Tageblatt empfangen die telegraphische Nachricht der Kriegserklärung gegen 19 Uhr und geben sofort Extrablätter heraus.
Vom Lokalkonflikt zum Weltkrieg
29. Juli: Österreichische Artillerie bombardiert Belgrad. „Die Stunde ist ernst“, meint das Tageblatt, während das Wort bereits „die grauenvolle Vision eines Weltkriegs“ beschwört.Doch noch besteht die Hoffnung, den Konflikt lokal begrenzen zu können,wenn Russland nicht zum Schutze Serbiens eingreift. Staatsminister Paul Eyschen unterbricht seine Kur im französischen Evian und kehrt in der Nacht vom 29. aufden 30. Juli nach Luxemburg zurück. Am 30. Juli kommt es zu Hamsterkäufen. Der Mehlpreis steigt um fünf Franken pro Ballen (100 kg). In Grevenmacher werden die Lebensmittelläden buchstäblich gestürmt. Die ersten Fremden verlassen das Land. Die großherzogliche Familie verzichtet vorläufig auf ihren Sommeraufenthalt in Hohenburg (Bayern).
Um 16 Uhr unterschreibt Zar Nikolaus II., auf Druck der Generalität, die allgemeine Mobilmachung der russischen Armee. Österreich-Ungarn mobilisiert um Mitternacht. Am Morgen des 31. Juli verbreitet sich die alarmierende Nachricht, die Moselbrücken von Schengen, Remich und Grevenmacher seien auf deutscher Seite gesperrt. Tatsächlich handelt es sich nur um verstärkte Kontrollen von durchfahrenden Fahrzeugen.
Die Stahlindustrie befürchtet, bald die Hochöfen, mangels deutscher Kohle, stilllegen zu müssen. Die Regierung garantiert Kapital und Zinsen sämtlicher Guthaben bei der Staatssparkasse, auch im Fall eines Krieges. Gold- und Silbermünzen sind bereits aus dem Zahlungsverkehr verschwunden, und Banknoten werden unter Wert gegen Hartgeld getauscht.
In Berlin trifft die Nachricht von der russischen Mobilmachung kurz vor Mittag ein, worauf die Reichsregierung den „Zustand der drohenden Kriegsgefahr“ ausruft, d. h. es herrscht ab sofort eine Art Militärdiktatur. Belgien mobilisiert um 19 Uhr. Um 21.40 Uhr wird der französische Abgeordnete und entschiedene Kriegsgegner, Jean Jaurès, im Café du Croissant in der Rue Montmartre in Paris, von Raoul Villain erschossen. Sein Tod begründet den späteren Mythos, Jaurès allein habe den Krieg nochverhindern können. Um 23.30 Uhr läuft der Pariser Zug, vollbesetzt mit heimkehrenden Dienstmädchen, über Longwy-Rodange, im Bahnhof Luxemburg ein.
1. August: Europa starrt in Waffen: titelt das Tageblatt und das Wort untertitelt: Europa rüstet. Vor dem drohenden Unheil verschanzt sich das kleine Luxemburg hinter seiner völkerrechtlich garantierten Neutralität und hofft, dass ein deutsch-französischer Krieg haarscharf an seinem Staatsgebiet vorbei ziehen wird, wie damals, im Sommer 1870.
Das Wort berichtet über eine Gemeinderatssitzung in Esch/Alzette, in der beschlossen wurde, von der luxemburgischen Regierung eine Abteilung Militär zu erbitten, die längs der Grenze bei Esch Aufstellung nehmen sollen. Natürlich werden diese ,Streitkräfte’ keineswegs gegen einen auf luxemburgisches Gebiet vordringenden Feind Gewalt anzuwenden haben: sie können höchstens den Deutschen oder Franzosen, die ihren Weg durch luxemburgisches Territorium nehmen wollen in höflichster Form mitteilen, dass sie im Begriff stehen, sich auf neutrales, unverletzliches Gebiet zu begeben und ihnen den Rest anheimstellen.
Deutschland beschließt ein Ausfuhrverbot aller kriegswichtigen Lebens- Futter- und Transportmittel. Gleichzeitig schaffen deutsche Händler hierzulande aufgekaufte Lebensmittel massenweise nach Deutschland. Viele Escher strömen an diesem Samstag nach Deutsch-Oth (Audunle-Tiche), um Zeuge möglicher erster Kriegshandlungen zu werden. Zwischen Oth und Villerupt verläuft die deutsch-französische Grenze. Aber Militär ist nirgendwo zu sehen, dafür umso mehr aufgeregte Einwohner auf den Straßen und in den Wirtshäusern.Der Bahnhof von Oth ist verwaist, und der Bus Villerupt-Esch ist nach Kneuttingen (Knuttange) verlegt worden.
Die allgemeine Mobilmachung in Frankreich erfolgt um 15 Uhr 45 und in Deutschland um 17 Uhr. Um 19 Uhr erklärt Deutschland Russland den Krieg.
Kaiser Wilhelm setzt sich nicht gegen seinen General durch
Gegen 19 Uhr besetzt eine Kompanie des Infanterieregiments Nr. 69 der 16. Division mit Hauptquartier in Trier, unter dem Kommando eines Leutnants Feldmann, den Bahnhof Ulflingen und beginnt die Gleise aufzureißen. Es ist die erste deutsche Grenzverletzung im noch nicht erklärten Krieg. Auf Luxemburger Protest und Telephonate hin bezeichnet Berlin das Ganze als Missverständnis.
Tatsächlich herrschen dort zwei unterschiedliche Lagebeurteilungen. Kaiser Wilhelm II. hofft bis zuletzt auf die Neutralität Frankreichs und Großbritanniens. Dagegen hält Helmuth Johannes Ludwig von Moltke, Chef des Generalstabs, den Krieg gegen Frankreich für unvermeidbar. Er will Frankreich rasch bezwingen, um dann mit geballter Kraft den trägen russischen Bären im Osten zu erledigen. So würde ein langer, kräftezehrender Zweifrontenkrieg vermieden.
Dies sieht der 1898 vom damaligen Feldmarschall Alfred von Schlieffen ausgearbeitete Plan vor. Die Okkupation der neutralen Länder, Luxemburg und Belgien, wird im Schlieffen-Plan in Kauf genommen, weil der deutsche Angriff durch die Ardennen erfolgen soll. Am Knotenpunkt Ulflingen berühren sich das deutsche und das belgische Eisenbahnnetz. Kurz nachdem von Moltke an diesem Abend mit dem Überfall auf Ulflingen den Schlieffen-Plan in Gang gesetzt hat, widerrruft Wilhelm II., der noch immer auf eine englische Antwort wartet, die ganze Aktion. In dem Gerangel behält von Moltke schließlich die Oberhand, und der deutsche Kaiser geht zu Bett mit den Worten: „Macht, was Ihr wollt.“
Die deutsche Invasion
Am 2. August gegen 3 Uhr morgens dringen die ersten deutschen Truppen per Automobil und auf Motorrädern über die Wasserbilliger Brücke ins Land ein. Gegen 6 Uhr fährt ein gepanzerter Zug, der aus neun Waggons, einer in der Mitte des Zuges angekoppelten Lokomotive sowie einem mit Eisenbahnschienen beladenen Anhänger besteht, im Bahnhof Luxemburg ein. Dem Zug entsteigen ein Hauptmann und etwa 150 Mann Genietruppen. Oberleutnant Frank überreicht dem deutschen Offizier eine Protestnote der Regierung, worauf dieser antwortet, er habe nur den Befehl, den Bahnhof und die Strecke gegen vorrückende Franzosen zu sichern. Die Deutschen wähnen hinter jedem Busch einen Franzosen, da Berlin den einrückenden Truppen weisgemacht hat, ein französischer Überfall auf Luxemburg sei zu erwarten, wenn er denn nicht schon stattgefunden habe.
Gegen 9 Uhr fahren fünf Automobile, die mit deutschem Militär besetzt sind, durch Clausen Richtung Oberstadt. Auf Anordnung von Staatsminister Eyschen wartet der Armeekommandant, Major van Dijk, auf der „Schlassbréck“, um ebenfalls eine offizielle Protestnote an den ersten angetroffenen deutschen Offizier zu überreichen.
Der unbewaffnete van Dijk erhält als Begründung des deutschen Vorgehens die gleiche Antwort wie Oberleutnant Frank am Bahnhof. Dann fährt van Dijk an der Spitze der Kolonne zum Regierungsgebäude, während die deutschen Militärwagen durch die Rue du Curé über den Placed’Armes nach Merl weiterfahren.
Staatsminister Eyschen übergibt dem deutschen Gesandten von Buch eine Protestnote der Regierung. Großherzogin Marie-Adelheid erwähnt in einem Telegramm an Wilhelm II. den Protest ihrer Regierung und bittet den Kaiser „in jedem Fall die Rechte des Großherzogtums wahren zu wollen“. Um 11 Uhr erklärt der preußische Major von Bärensprung Staatsminister Eyschen, er habe den Befehl, die Stadt und Umgebung militärisch zu besetzen, keinesfalls in die Zivilverwaltung einzugreifen und den Eisenbahnverkehr aufrecht zu erhalten. In diesem Sinne rechtfertigt die Reichsregierung in Berlin die Besetzung. „Unsere militärischen Maßnahmen in Luxemburg bedeuten keine feindliche Handlung gegen Luxemburg, sondern lediglich Maßnahmen zur Sicherung der in unserem Betrieb befindlichen Eisenbahnen gegen Überfälle der Franzosen.
“Die Wilhelm-Luxemburg-Bahn wird von der Kaiserlichen Generaldirektion der Reichsbahnen betrieben, darf aber laut luxemburgisch-deutschem Eisenbahnvertrag von 1892 nicht zu militärischen Zwecken „während eines Krieges, an welchem Deutschland beteiligt sein sollte“ genutzt werden. In Artikel 2 verpflichtet sich die deutsche Regierung „sich derselben (der Bahn) … auf keine die Neutralität des Großherzogtums verletzende Weise zu bedienen“.
Den ganzen Tag über strömen nun deutsche Truppen ins Land, über Wasserbillig, Remich, Grevenmacher, in Zügen, Wagen, zu Pferd und zu Fuß. An Brücken und Eisenbahnlinien, am Postamt in Luxemburg ziehen deutsche Wachen auf. Merl wird zum Sammelplatz. Von dort aus ziehen Soldaten zur belgischen Grenze; nachmittags erreichen Vorhuten Esch/Alzette und Differdingen. Es ist erwiesen, dass weder vor noch nach der deutschen Besetzung kein einziger französischer Soldat auf luxemburgischem Territorium stand. Die Franzosen hatten sich sogar aus Longwybis nach Briey zurückgezogen.
Die ersten Vertriebenen dieses Krieges sind zirka 4000 italienische Staatsbürger, Männer, Frauen und Kinder. Die meisten von ihnen wurden aus Frankreich ausgewiesen und harren anschließend im Bahnhof Luxemburgauf ihre Weiterfahrt nach Trier, der einzigen noch offenen Bahnverbindung. Am Abend dieses folgenschweren Sonntags gibt das Wort ein Extrablatt mit dem Titel „Militärische Okkupation Luxemburgs“ heraus.
Im Sog der Bündnisse
Für die deutsche Heeresleitung gilt es, die beiden Erzfeinde Frankreich und Russland niederzuringen und sich mit dem britischen Empire zu arrangieren. Deshalb versucht der deutsche Kanzler, Theobald von Bethmann Hollweg, den britischen Botschafter in Berlin zu überzeugen, dass die Neutralität Belgiens doch nur ein Fetzen Papier sei, und er beschwört ihn: „Und dafür wollen Sie Krieg führen, wegen eines Wortes?“
Zum Krieg entschlossen ist vor allem die deutsche Generalität, deren Kriegsmaschinerie bereits angelaufen ist, als am 3. August um 18.40 Uhr Deutschland Frankreich den Krieg erklärt. Als Begründung dient ein imaginärer französischer Luftangriff auf Nürnberg, ein durchsichtiges Lügenkonstrukt.
Am 4. August fallen deutsche Truppen in Belgien ein und verwüsten die Kleinstadt Visé an der Meuse. Nach dieser zweiten flagranten Neutralitätsverletzung erklärt Großbritannien, am 5. August, Deutschland den Krieg. Eine Woche später sind alle europäischen Großmächte, außer Italien, im Krieg. Die Triple-Entente der ungleichen Verbündeten: Russland, Frankreich, Großbritannien trifft auf die Allianz der beiden Kaiserreiche Deutschland und Österreich-Ungarn. Hass, Mißtrauen und Revanchegelüste, auf beiden Seiten über Jahrzehnte aufgestaut, entladen sich in entschlossene Kriegsbereitschaft.
Auf Seiten des deutschösterreichischen Blocks kommt es allerdings zu zwei bedeutenden Ausfällen: Italien und Rumänien erklären ihre Neutralität. Fast scheint es, als habe in letzter Minute der Mut auch den österreichischen Kaiser Franz-Joseph verlassen. Er, der in den langen Jahrzehnten seiner Herrschaft fast nur militärische Niederlagen einstecken musste, zögert bis zum 6. August, um Russland den Krieg zu erklären.
Eine ungeahnte patriotische Begeisterung erfasst die Völker Europas, oder wie Jean Guéhenno sich ausdrückte: „Katholiken, Juden, Protestanten, Sozialisten hielten in ihren Gedanken kurz inne, und unterwarfen ohne Not ihren Glauben den Erfordernissen des Augenblicks … toutes les vertus se heurtaientà toutes les vertus.“ Nur wenige ahnen, welch furchtbares Gemetzel bevorsteht, so wie jene bretonische Bäuerin, die, als die Kirchenglocken zur Mobilmachung läuten, sagt. „Voilà le glas qui sonne pour nos gars qui s’envont.“
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