Was steht einem Opfer zu?
Was steht einem Opfer zu?
Von Diane Lecorsais und Gilles Siebenaler
Opfer einer Straftat haben die Möglichkeit, anlässlich eines Strafverfahrens gegen den Verursacher ihres Schadens, im Strafprozess als Nebenkläger, „partie civile“, den erlittenen Schaden einzuklagen. Die Position der Zivilpartei in den Strafverfahren hat sich in den vergangenen Jahren stark gewandelt. Waren Opfer und ihre Angehörigen früher eher unbeteiligt, kommt ihnen heute eine nicht unwesentliche, aktive Rolle im Prozess zu. Dennoch haben sie keinen leichten Stand: Aufwand und Ertrag klaffen häufig auseinander. Oftmals müssen die Nebenkläger gar draufzahlen.
Rechtsanwalt Maître Pol Urbany war als Vertreter der Nebenklage maßgeblich an der Wahrheitsfindung im Luxair-Prozess beteiligt. U. a. hat er die Aufnahme des „Cockpit Voice Recorders“ der Unglücksmaschine tontechnisch analysiert und akustisch zweifelsfrei nachgewiesen, wer die Fokker zum Zeitpunkt des Absturzes wirklich steuerte. Selten spielte eine Zivilpartei in einem Gerichtsverfahren eine so aktive Rolle. Nach elf Jahren konnte Me Urbany das Luxair-Dossier im vergangenen Jahr schließen. Am Kassationsverfahren wird er nicht teilnehmen.
Im Gespräch mit dem "Luxemburger Wort" erläutert der Anwalt nun die Rolle der Zivilpartei vor Gericht - und spricht über die Stärken und Schwächen unseres Rechtssystems.
Wer kann haftbar gemacht werden für einen Schaden?
Me Urbany: In unserem „Code civil“ sind in diesem Kontext zwei grundlegende Prinzipien enthalten – Artikel 1382 und 1383. Einfach ausgedrückt bedeutet der Artikel 1382: Jeder, der einen Fehler begeht, der einen Schaden herbeiführt, ist haftbar für diesen Schaden. Man benötigt also: einen Fehler, einen Schaden, und einen kausalen Zusammenhang zwischen Fehler und Schaden. Artikel 1383 besagt, dass nicht nur das Begehen eines Fehlers eine Verantwortung für einen Schaden mit sich zieht, sondern auch Nachlässigkeit, mangelnde Voraussicht, Unachtsamkeit und Unvorsichtigkeit. Dies gilt sowohl vor dem Zivilgericht als auch vor dem Strafgericht.
Wer kann Schadenersatz einklagen?
Me Urbany: Wenn ein Opfer zu Tode gekommen ist; etwa bei einem Unfall, einem Unglück, durch Mord...; kann es natürlich selbst keinen Schadenersatz mehr einklagen. Wir sprechen daher von „victimes par ricochet“. Das sind jene Personen, denen durch den Tod des Opfers Leid zuteil wird – Eltern, Großeltern, Onkel, Tanten, Geschwister, Freunde usw. Entschädigt wird moralischer Schaden, d. h. Trauer und Leid, und materieller Schaden, etwa den Verlust eines monatlichen Einkommens der Familie. Jeder hat das Recht, für seinen eigenen Schaden entschädigt zu werden. Es ist wichtig, dass alle betroffenen Personen an einen Anwalt herantreten. Dabei geht es nicht nur darum, eine möglichst gerechte Entschädigung zu bekommen – hierzulande bekommt man schließlich nicht genug. Auch gilt es, Präsenz zu zeigen im Prozess, und deutlich zu machen, wer alles unter dem Verlust leidet. Stirbt ein Opfer nicht, dann wird sein eigener Schaden entschädigt. Trotzdem kann es auch in diesem Fall „victimes par ricochet“ geben. Behält ein Familienvater zum Beispiel nach einem Unfall eine Behinderung, so entsteht ein moralischer Schaden für seine Familie – und, falls die Person berufstätig war, auch ein materieller.
Welche Prozedur müssen Zivilparteien hierzulande durchlaufen?
Me Urbany: Ist jemand strafrechtlich verantwortlich, dann ist er es auch auf zivilrechtlicher Ebene. Wenn eine Angelegenheit also sowieso vor dem Strafgericht verhandelt wird, dann gehe ich als Zivilpartei dorthin, ich nehme am Prozess teil und werde entschädigt. Beim Strafprozess geht es um eine oder mehrere „infractions pénales“ – sprich um Verbrechen, Delikte und Ordnungswidrigkeiten. „Par définition“ ist jede Verletzung des Strafgesetzes ein Fehler, bzw. eine Vernachlässigung, denn schließlich wird dem mutmaßlichen Täter der Prozess gemacht wegen Verhalten, die vom Strafgesetzbuch als fehlerhaft definiert sind. Aus diesem Grund brauchen Opfer nicht separat vor dem Zivilgericht einen Prozess zu führen, sondern sie können im Strafprozess ihre Zivilklage einreichen. Das Strafgericht kann demnach gleich über zwei Dinge zusammen entscheiden: Ist jemand schuldig oder nicht? Wenn ja, können die Richter sogleich auch über die Entschädigung der Opfer entscheiden.
Und ohne Strafprozess?
Me Urbany: Dann habe ich immer noch die Möglichkeit, vor das Zivilgericht zu ziehen. Manchmal ist dies sogar besser, etwa, wenn nicht ganz klar ist, wer genau den Fehler gemacht hat – zum Beispiel bei einer Infektion in einem Krankenhaus. Dann klagt man zivilrechtlich gegen das Krankenhaus an sich. Prinzipiell haben wir in Luxemburg ein System, das gut durchdacht ist. Auch wenn es oft nach wie vor von der Erfahrung und vom Engagement des Anwalts abhängt, wie ein Prozess letztendlich ausgeht.
Wie wird ein Opfer hierzulande entschädigt?
Me Urbany: Hier gilt das Prinzip der „réparation intégrale“. Dies bedeutet, dass – wenn jemand für den Schaden verantwortlich ist – dieser Schaden integral kompensiert werden muss und nicht pauschal. Das Opfer hat Recht auf einen „Schadensersatz“, also sollte der „Schaden-Ersatz“ dem Schaden entsprechen. Allerdings wird dieses Recht auf integrale Entschädigung nicht immer von den Gerichten vollends respektiert. In solchen Fällen lege ich Berufung ein.
Was ist mit den Anwaltskosten?
Me Urbany: Genau da liegt der Hase im Pfeffer: Wenn ein Opfer klagen möchte, muss es seine Anwaltskosten aus eigener Tasche vorstrecken. Zwar kann es beantragen, dass die Anwaltskosten rückerstattet werden. Aber wir haben ja gesehen, wie die Richter im Luxair-Prozess geurteilt haben! Meinem Mandanten, Jean Majerus, wurden 60.000 Euro für die Anwaltskosten zugesprochen – dabei hat er für einen elf Jahre währenden Prozess mit einem Dossier von 50 Aktenordnern und fast 70 Sitzungstagen Prozess in Wirklichkeit 220.000 Euro nachweislich gezahlt. Rechnungen und Zahlungen lagen vor. Wir haben ihm nicht mal alle Stunden berechnet, den tiefsten Stundentarif angewendet und dazu noch 25 Prozent Nachlass gewährt. Trotzdem haben sich die Richter erlaubt, diesen Schaden nicht integral anzuerkennen und vollkommen willkürlich Herrn Majerus nur einen Teil zugesprochen.
Wie ist das möglich?
Me Urbany: Hier liegt ein großer Lapsus in unserer Rechtsprechung vor. Wenn es um ein unfreiwilliges Vergehen, d. h. um einen Unfall geht – und das sind bei weitem die meisten Strafprozesse – werden die Opfer im Vergleich zu den Tätern benachteiligt, weil die Anwaltskosten bei den Opfern nicht von der Versicherung übernommen werden und bei den Tätern schon. Dies kann also soweit gehen, dass dem Opfer letzten Endes 35.000 Euro Schadenersatz zugesprochen werden, obwohl es 40.000 Euro an gerechtfertigten Anwaltskosten hatte. Das Opfer muss also draufzahlen! Können Sie sich das vorstellen? Das ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit! Opfer, die klagen müssen, um zu ihrem Recht kommen, müssen doch die Anwaltskosten integral erstattet bekommen! Das nicht zu tun ist nicht vereinbar mit einem Rechtsstaat, deshalb muss hier etwas geändert werden. Das Opfer bekommt nämlich nie eine „réparation intégrale“, weil von dem ihm zugesprochenen Schadenersatz immer die Anwaltskosten abfallen. Im Fall „Luxair“ ist dies umso skandalöser, als dass das Opfer, Jean Majerus, und sein Anwalt entscheidend zur Bestimmung der Schuldigen beigetragen haben.
Der Fall „Luxair“ hat gezeigt, welche Strapazen eine solch langwierige Prozedur für die Nebenkläger mit sich bringen kann. Steht da der zugesprochene Schadenersatz noch im Verhältnis zum Aufwand?
Me Urbany:Unser Entschädigungssystem ist meiner Ansicht nach abhängig vom guten Willen der Versicherungen. Ich rede nicht von amerikanischen Verhältnissen. Die Beträge, die dort gesprochen werden, sind schlichtweg übertrieben. Doch das, was bei uns gewährt wird, ist schlichtweg zu wenig! Verschiedene Summen sind dermaßen niedrig, dass man sich fragt, ob die Menschen auf den Arm genommen werden sollen. Man muss ja bedenken: Die Zivilpartei muss meistens kämpfen, um entschädigt zu werden. Sie muss einen langen Atem aufweisen, wenn einige Prozessparteien das Verfahren in die Länge ziehen, auch damit der Kläger müde wird und finanziell an seine Grenzen stößt. Bei Unfällen werden beim Beschuldigten die Kosten von der Versicherung übernommen. Es gibt aber keine Versicherung für die Opfer! In dieser Hinsicht sind unser Rechtssystem und unsere Justiz noch nicht an dem richtigen Punkt angekommen.
Den vollständigen Artikel lesen Sie auf den Fokusseiten in der Dienstagsausgabe des "Luxemburger Wort".
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