Vor 20 Jahren: Bange Stunden in Wasserbillig
Vor 20 Jahren: Bange Stunden in Wasserbillig
(LW) - Mittwoch, 31. Mai 2000: Kurz nach 15.30 Uhr dringt ein bewaffneter Mann in die Kindertagesstätte „Spatzennascht“ in Wasserbillig ein und nimmt Kinder und Betreuerinnen als Geiseln. In Wasserbillig beginnt einer der aufsehenerregendsten Fälle der Luxemburger Kriminalgeschichte, der weltweit für Schlagzeilen sorgt. Erst nach knapp 28 Stunden kann die Polizei mit einer spektakulären Aktion den Geiselnehmer überwältigen.
Als Journalisten getarnte Polizisten eines Sondereinsatzkommandos setzen Neji Bejaoui, einen luxemburgischen Familienvater mit tunesischen Wurzeln, mit einem gezielten Schuss außer Gefecht und befreien seine Opfer. Bejaoui wird später zu 22 Jahren Haft verurteilt, davon vier auf Bewährung. Um seine Geiseln, um die Kinder und Betreuerinnen, kümmern sich in den Monaten und Jahren nach der Geiselnahme Psychologen.
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Kritik an Polizeitaktik
Die listige Taktik der Polizei, die den Geiselnehmer mit der Aussicht auf ein Fernsehinterview aus dem Kinderhort gelockt hatte, rief damals in Journalistenkreisen Kritik hervor. Der damalige Premierminister Jean-Claude Juncker rechtfertigte die Vorgehensweise der luxemburgischen Behörden: Die Polizeiaktion habe zu einem guten Ende geführt, keine Geisel wurde getötet. Allerdings bleibe ein jeder, der mit diesem Ereignis zu tun hatte, bis ans Ende seines Lebens davon gekennzeichnet, erklärte Juncker.
Luc Frieden, der damalige Justizminister, bezeichnete die Geiselnahme in Wasserbillig als "schwerste Stunde" seiner politischen Laufbahn: "Dass der Staatsanwalt unter meiner Autorität den Schießbefehl zu erteilen hatte, hat Spuren bei mir hinterlassen."
Video: "Der Gangster schien bereit, ernst zu machen"
Wie das Geiseldrama von Wasserbillig nicht nur Luxemburg in Atem hielt, das kann man im „Luxemburger Wort“ vom 3. Juni 2000 nachlesen:
„Wer geglaubt hatte, nach dem glücklichen Ende des 28-stündigen Geiseldramas am Mittwoch und Donnerstag wäre gestern wieder die Normalität in Wasserbillig eingekehrt, der hatte sich gründlich geirrt. Am Morgen stand noch ein einzelner TV-Übertragungswagen gegenüber dem Gemeindehaus, wo in den vorangegangenen Tagen das Pressequartier eingerichtet war. Die anderen Medienteams waren ein paar Straßen weitergezogen, vor die Kindertagesstätte ,Spatzennascht‘ in der Rue Bocksbierg. Hier hatten die ausländischen Radio- und Fernsehstationen ihre Kameras aufgestellt, die Ü-wagen positioniert und schickten via Satellit Reportagen in die heimischen Redaktionen und Fernsehstudios. Natürlich stand das Haus, in dem die Geiselnahme stattfand, an erster Stelle des Interesses. (...)
Dort, wo während des Geiseldramas kein Zugang für die Öffentlichkeit und die Medienvertreter war, herrschte gestern Hochbetrieb. Ein Hauch der großen weiten Welt wehte über dem, vom Tanktourismus einmal abgesehen, eher beschaulichen Ort, der für einige Tage in den Mittelpunkt des internationalen Medieninteresses gerückt war. Journalisten fingen mit dem Mikrophon in der Hand jeden Passanten ab, erpicht auf eine gute Story, am besten einen Scoop. Und die Leute ließen sich nicht lange bitten. Groß und Klein blinzelten unter gleißender Junisonne in die Kameras, äußerten fachmännische Kommentare, gaben ohne Scheu Gedanken und Gefühle preis. Dass sie wiederholt vor laufenden Kameras ihre Geschichte erzählen mussten, störte manche überhaupt nicht. Sie genossen den Medienrummel und das berauschende Gefühl, einmal einen Auftritt in einer Nachrichtensendung zu haben. (...)
Berichte im LW vom 3. Juni 2000
Marie-France, acht Jahre alt, brachte unaufgefordert ihr Wissen an den Mann (bzw. Frau): ,Ech hunn e Kolleg, deen en Donneschdeg den Owend fräigelooss ginn ass. Hie war déi ganzen Zäit dobäi. Ech hunn hie getréischt, wéi e gekrasch huet.‘ Und weiter: ,Ech wollt net, datt de Mann de Kanner eppes géif doen. Dat hätt ech schlëmm fonnt.‘ (...) Wie wir in der Rue Bocksbierg in Erfahrung bringen konnten, waren Polizeibeamte des Sondereinsatzkommandos in einigen Häusern einquartiert.
,Mir hunn hinne gehollef wéi mir konnten, a wann et nëmme war fir Kaffi ze kachen‘ sagte eine Dame.(...) ,Ech krut och mat, wéi en Donneschdeg géint 16.30 Auer geplangt ginn ass, den Täter ze stoppen wann e géif mam Auto fortfueren‘, sagte ein Mann. Er sparte allerdings nicht an Kritik, meinte, die Intervention hätte eher erfolgen sollen. Die Handlung habe sich nicht in einem Rambo- oder Wildwestfilm abgespielt, doch wenn Kinder im Spiel seien, zähle jede Minute. (...) Dass der Täter keinem Kind etwas zuleide getan hat, werteten alle als positiv. Voll des Lobes waren alle über die Leistung der Erzieherinnnen, die bis zum Zugriff 28 Stunden lang in einer schwerwiegenden Situation ausharrten. (...)“
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