Der Luxemburger "Gangsterlehrling" und eine schwere Straftat
26.11.2022
Ende November 1972 hielten Harald E. und Alphonse F. mit einer Geiselnahme in einem Waffenladen Trier und die Welt in Atem. Ihre Opfer wurden weder betreut noch entschädigt.
Von Tom Rüdell und Marvin Schieben
Die kurze Flucht von Alphonse F. endete dank der Gründlichkeit der Deutschen Bundesbahn nahe der Luxemburger Grenze: Am 28. November 1972, genau um 16:06 Uhr, kurbelte Nikolaus G., Schrankenwärter am Bahnübergang über die Bundesstraße 49 in Trier-Zewen, die Bahnschranke herunter. Nicht weil ein Zug kam, sondern weil sein Fahrdienstleiter aus dem Bahnhof Trier-West ihn per Telefon dazu aufgefordert hatte. G.'s Chef hatte gesehen, wie mehrere Fahrzeuge an der Trierer Römerbrücke vorbei stadtauswärts Richtung Luxemburg rasten. Und weil er im Radio gehört hatte, was seit dem Abend zuvor in Trier los gewesen war, telefonierte er eilig nach Zewen.
Dort spielte sich dann ein wahrer Showdown ab: Ein weißer Mercedes 220 hielt vor der Schranke, insgesamt sechs Polizeiwagen dahinter. Darüber ein Hubschrauber des Bundesgrenzschutzes. Alphonse F., der Mercedesfahrer, schoss gezielt zweimal mit einem Revolver auf einen Polizisten, der schoss mit der Maschinenpistole zurück - 20 Mal. Die Bilder des durchsiebten Mercedes „Strich-Acht“ gingen um die Welt. F. gab auf, wurde noch am Oberschenkel getroffen und schließlich festgenommen - fast genau 24 Stunden, nachdem er eines der spektakulärsten Verbrechen der deutschen Nachkriegsgeschichte begangen und das nur mit Glück überlebt hatte.
Aus dem Kino in die Realität
Doch wie war der 23-jährige Luxemburger mit einer Kugel im Bein an einer Trierer Bahnschranke gelandet? Am Tag zuvor war er gemeinsam mit Harald E., einem 22-jährigen Deutschen, in ein Waffengeschäft in der Trierer Paulinstraße gegangen. Dort wollten sich die beiden Waffen „besorgen“, um später eine Bank zu überfallen.
Alphonse F. hatte keine Erfahrung damit, Harald E. schon - er war 1969 aus der DDR geflohen und hatte 1970 in Hamburg eine Bank zu überfallen versucht. Dafür gab es Jugendarrest, weil er unter 21 war. Dem „Strafrest auf Bewährung“, hatte er sich durch Flucht nach Spanien entzogen. Auf der Rückreise am 25. November hatte er den arbeitslosen F. und dessen Freundin am Luxemburger Bahnhof kennengelernt - also erst zwei Tage vor dem Trierer Überfall.
Es ist eine Zufallsbekanntschaft, die beide teuer zu stehen kommen wird. Denn beim Bier reden sie über den Film „Blutiger Freitag“ von Rolf Olsen, den F. und seine Freundin am Vorabend im Yank Cinema in der Rue Sainte-Zithe gesehen haben - ein brutaler Gangsterstreifen, in dem ein Bankraub mit anschließender Geiselnahme im Mittelpunkt steht. Die Filmkritik im „Luxemburger Wort“ vom 24. November schrieb: „Handwerklich nicht schlecht gemacht, schwelgt der Film in der Freude am Blutvergießen und wirkt durch seine sensationsbetonte Haltung direkt abstoßend. [...] Nur für Erwachsene.“
Es ist im Nachhinein fast erschreckend, wie genau die beiden jungen Männer den Film nachspielen werden - trotz der Prämisse, dass er mit dem Tod der Geiselnehmer endet. Offenbar glaubten sie schlauer zu sein als die Filmgangster.
F. und E. fahren am Morgen des 26. November mit dem Zug nach Saarbrücken. Dort wollen sie ein geeignetes Waffengeschäft suchen. Doch Saarbrücken scheint ihnen zu riskant. Sie erinnern sich an ein „passenderes“ Geschäft von ihrem Zwischenstopp in Trier und fahren am nächsten Tag dorthin. Am 27. November gegen 10 Uhr morgens betreten die beiden zum ersten Mal „Waffen Weber“ in der Paulinstraße und lassen sich ein Kleinkalibergewehr vom Typ Erma zeigen. Mit der Typenbezeichnung gehen sie in ein anderes Geschäft, „Waffen Wagner“ am Hauptmarkt (heute noch an anderer Stelle existent) und besorgen sich die entsprechende Munition.
Von Anfang an wird scharf geschossen
Um 16.07 Uhr beginnen die „24 Schreckensstunden von Trier“, wie der Trierer Oberstaatsanwalt Peter Fritzen 2020 seinen lesenswerten Aufsatz über die Tat betiteln wird. F. und E. betreten wieder „Waffen Weber“, lassen sich erneut das Gewehr vorführen, lenken den 43-jährigen Besitzer Hermann Weber ab, laden die Waffe und bedrohen ihn.
Weber glaubt zunächst an einen Scherz, flieht dann in den Nebenraum und wird noch im Weglaufen von E. am Arm angeschossen. Er erleidet eine komplizierte Unterarmfraktur, kann aber fliehen. Seine schwangere Frau Käthe und seine achtjährige Tochter Katharina bleiben im Laden zurück. Aus dem Überfall ist eine Geiselnahme geworden, aus der Geiselnahme wird eine Belagerung werden, ein Nervenkrieg - mit einem Polizeieinsatz, wie ihn die „Bonner Republik“ noch selten erlebt hat.
Bereits um 16.11 Uhr ist die Polizei vor Ort. Weber kann seine Tochter unbemerkt aus dem Nebenzimmer durch den Hintereingang in Sicherheit bringen. Seine 36-jährige Frau ist die verbleibende Geisel. Von Anfang an wird scharf geschossen, es gibt weitere Verletzte. E. schießt mit einer Schrotflinte durch die Glastür auf einen Polizisten, danach auch auf weitere Beamten im Hinterhof. Die Polizei schießt zurück.
Wenige Minuten später postieren sich Scharfschützen in der Villa Henn gegenüber, auch sie werden beschossen und schießen zurück, treffen aber nicht. Die ganze Nacht über schießen E. und F. wahllos auf Autos, Laternen, Leuchtreklamen, Schaufenster in der mittlerweile abgeriegelten Paulinstraße - und weiter auf Polizisten.
Mittlerweile hat sich eine Menschenmenge an der Absperrung am vorderen Ende der Paulinstraße versammelt, internationale Kamerateams und Journalisten sind nach Trier gekommen. Ein Einsatz dieser Größenordnung war nicht nur für die Trierer Polizei Neuland. Die Geiselnahme bei den Olympischen Spielen in München lag erst wenige Monate zurück, als Antwort darauf war im September die Spezialeinheit GSG 9 gegründet worden - die deutschen Sicherheitsbehörden erlernten gerade erst den Umgang mit Terrorlagen.
Der Arzt und der Reporter
In Trier werden ab jetzt zwei Männer für den weiteren Verlauf wichtig: Der Arzt Günther Hoffmann, der für das Deutsche Rote Kreuz am Tatort ist, und der „Bild“-Journalist Horst Reber aus Frankfurt, der in den frühen Morgenstunden des 28. November eintrifft.
Hoffmann wurde von Oberbürgermeister Josef Harnisch mit der Verhandlungsführung betraut - ein Zufallstreffer offensichtlich, man kannte sich aus diversen Gremien. Und Hoffmann machte seine Sache gut, er brachte die nötige Geduld und die Nerven auf, um auf die immer erratischer agierenden Geiselnehmer einzuwirken und ihr Vertrauen zu gewinnen. Der Arzt handelt die Lösegeldforderung von 500.000 DM (heutiger Wert knapp 900.000 Euro) auf 40.000 DM (rund 70.000 Euro) herunter. Als Fluchtfahrzeug verlangen E. und F. einen Mercedes 220, der ihnen schließlich auch gewährt wird. Das Auto war mit einem Peilsender präpariert, was sich angesichts der kurzen Flucht später als unnötig erwies.
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Horst Reber, damals 28, war als Reporter der Frankfurter Bild-Redaktion in Trier. Als die Einsatzleitung in einer Pressekonferenz fragte, ob jemand bereit sei, sich gegen Frau Weber austauschen zu lassen, meldete sich Reber freiwillig - wofür er später das Bundesverdienstkreuz erhielt. Er war allerdings nicht der einzige Kandidat, insgesamt acht Journalisten hatten sich angeboten. Wie der „Trierische Volksfreund“ später berichtet, hätte man fast sogar noch ausgelost. Statt einer skurrilen Lotterie entschied dann aber doch die Polizei.
Um kurz vor 7 Uhr kommt Käthe Weber nach 15 Stunden frei und Reber sitzt bei den Geiselnehmern im Geschäft. Die Lage ist zerfahren. Immer wieder ruft Dr. Hoffmann an, um zu verhandeln, aber auch Medien aus ganz Deutschland haben die Nummer des Ladens herausgefunden und blockieren den Anschluss. Zudem wird immer weiter geschossen. Kurz vor 12.30 Uhr telefoniert Reber mit seiner Redaktion, drängt dabei auf eine Lösung. Die Einsatzleitung erwägt einen Feuerbefehl für die Scharfschützen, entscheidet sich aber dagegen.
Stattdessen gibt der rheinland-pfälzische Innenminister Heinz Schwarz den Tätern sein Ehrenwort, sie mit 40.000 DM, aber ohne Geisel im Mercedes wegfahren und sie eine Stunde lang nicht verfolgen zu lassen. Die Geiselnehmer nahmen den Vorschlag an, nicht ohne darauf zu bestehen, dass die Erklärung des Ministers ihnen unterschrieben ausgehändigt, von Hoffmann öffentlich per Megafon verlesen und in Rundfunk und Fernsehen gesendet wird.
Ihr seid ja zu früh, ihr Schweine!
Schwarz’ Ehrenwort, oder vielmehr die Frage, ob er es gebrochen habe, wird später viel diskutiert werden - denn beide Täter wurden innerhalb der versprochenen Stunde gefasst. Alphonse F. soll bei seiner Festnahme gerufen haben „Ihr seid ja zu früh, ihr Schweine!“
Schwarz rechtfertige sich später, die Zeit habe mit der Freilassung Rebers begonnen zu laufen - der Mercedes sei aber erst losgefahren, nachdem E. mehrere Minuten lang das Lösegeld gezählt und mit F. aufgeteilt habe. Er hätte, so Schwarz gegenüber dem „Trierischen Volksfreund“, sein Wort aber auch „ohne moralische Skrupel“ gebrochen, sollte jemand dieser Meinung sein. Letztlich gibt der Erfolg ihm Recht: Die Trierer Geiselnahme ist die erste in Deutschland, bei der niemand stirbt.
E. und F. hätte mehr Zeit indes auch nicht viel genützt, denn ihre Flucht verläuft genauso chaotisch wie ihre Geiselnahme. Sie fahren in Richtung Schweich im Norden, verfahren sich bei Kenn. E. flieht zu Fuß weiter, F. fährt zurück nach Süden durch die Stadt Richtung Luxemburg. Die Polizei vermutet E. zunächst noch mit im Mercedes, greift dann aber doch in Kenn zu. E. wird um 16.20 festgenommen - fünf Minuten nach seinem Luxemburger Komplizen, der an der Zewener Bahnschranke hängengeblieben war.
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Ein spektakulärer Prozess
Im Herbst 1973 kommt es in Trier zum Prozess, auch dieser verläuft einigermaßen spektakulär. Zur Tatortbegehung am 18. Oktober versammeln sich wie schon während der Geiselnahme zahlreiche Schaulustige vor den Schaufenstern, wie ein erst kürzlich aufgetauchtes Foto beweist.
Harald E. übernimmt in der Verhandlung zwar Verantwortung und entlastet Alphonse F., doch er nutzt seine Aussagen auch für plakative politische Parolen - „Nicht Alphonse, sondern ihr seid schuldig, ihr seid die Angeklagten; Alphonse ist das Opfer des Kapitalismus geworden“, zitiert ihn das Luxemburger Wort. E. gefiel sich offenbar in der Rolle des kaltblütigen Anführers, es sei F. gewesen, der „kein Blutvergießen gewollt“ habe. Er sei der „Boß“ gewesen, hatte das „Wort“ bereits kurz nach der Festnahme der beiden „Gangsterlehrlinge“ geschrieben.
Einen der schwersten Tatvorwürfe gegen sich streitet E. vor Gericht aber ab: die erwiesene Vergewaltigung der Geisel Käthe Weber eine Stunde vor ihrer Freilassung - von „erzwungener Notzucht“ schrieb das Wort im Duktus der Zeit. Zugunsten der beiden Täter sagen Dr. Hoffmann und Horst Reber aus. Laut Hoffmann seien sie „nicht als eiskalte Gangster zu bezeichnen [...], sondern als unreife junge Männer, die sich ihrer Handlungsweise nicht bewusst waren“. Reber sagte aus, die beiden hätten ihm vor seiner Freilassung versichert, künftig „ein Leben ohne Kriminalität beginnen zu wollen“.
Viel ändern diese Aussagen nicht: Harald E. wird zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt, wegen Raubes mit Waffen, gemeinschaftlicher erpresserischer Freiheitsberaubung, Geiselnahme, Notzucht und gemeinschaftlichen versuchten Mordes an Waffenhändler Weber. Für Alphonse F. werden es zwölf Jahre - bei ihm entfällt der Vergewaltigungsvorwurf, dafür werten die Richter den Schuss auf den Polizisten in Zewen ebenfalls als versuchten Mord.
Die Strafen werden abgesessen, F. bekommt zum Ende hin Bewährung und ist 1985 ein freier Mann. E. wird psychisch krank, seine Haft wird mehrmals unterbrochen, sie ist erst 1997 verbüßt. Die Opfer bekommen Schmerzensgeld zugesprochen, das ungefähr der Höhe des Lösegelds entspricht, sehen davon aber keinen Pfennig - bei den Tätern sei nichts zu holen gewesen, schreibt der „Trierische Volksfreund“ 2007 lapidar. Auch Opferschutz ist etwas, was die Republik erst lernen muss: Eine psychologische Betreuung oder Trauma-Nachsorge habe es weder für sie selbst, noch ihre Eltern gegeben, sagt Tochter Katharina im gleichen Volksfreund-Interview.
“Han en Knarr”
In Trier kam es wenig später zu einer weitaus harmloseren und ein wenig skurrilen Nachahmungstat, als ein 20-jähriger Anfang Dezember 1972 mit einer Gaspistole eine Kneipe in Trier-Nord betrat und ankündigte, den Wirt zu erschießen. Später verschanzte er sich im Klassenzimmer einer benachbarten Schule, nahm die Lehrerin als Geisel und gab erst auf, als seine Mutter in das Geschehen eingriff (laut „Spiegel“, indem sie „sich ins Klassenzimmer schob“- laut „Luxemburger Wort“ indem sie vom Schulhof aus mit dem Geiselnehmer verhandelte). Dem „Spiegel“ war das sogar eine Überschrift auf Trierisch wert: „Han en Knarr“, was wohl darauf abzielte, dass das Verbrechen jetzt auch im friedlichen Hinterland Einzug gehalten habe.
Etwas ernsthafter verhandelte das Magazin das Thema dann aber doch - die Polizei, so der „Spiegel“ müsse sich nach dem Bluff aus der Paulinstraße (gemeint ist Minister Schwarz’ gebrochenes oder auch nicht gebrochenes Ehrenwort) eine neue Taktik einfallen lassen. Was zwar einerseits auch geschah: Die Einsatzkräfte professionalisierten sich, und „neutrale“ Verhandler wie der DRK-Arzt Dr. Hoffmann gehören schon lange zum Standard bei einem solchen Einsatz.
Andererseits ereignete sich 16 Jahre nach dem Überfall auf „Waffen Weber“ das „Gladbecker Geiseldrama“, bei dem aus polizeilicher Sicht so gut wie alles schiefging. Hier waren am Ende drei Tote zu beklagen und der spätere „Bild“-Chefredakteur Udo Röbel hatte eine weitaus unrühmlichere Rolle gespielt als sein Kollege Horst Reber in Trier - Röbel war in Köln ins Fluchtauto eingestiegen, um den Gangstern den Weg aus der Stadt zu zeigen.
Mitarbeit: Christina Gerstenmayer, LW-Archiv.
Verwendete Quellen:
- Peter Fritzen: Die 24 Schreckensstunden von Trier. In: Kontrolle, Konflikt und Kooperation. Festschrift 200 Jahre Staatsanwaltschaften Koblenz und Trier. 2020. (Danke, Alexander Schumitz)
- Trierischer Volksfreund: „Ich habe das nie richtig verarbeitet“ (2007)
- Trierischer Volksfreund: Die Geiselnahme von 1972 (2021)
- Der Spiegel: Schöne Geschichte (1972)
- Der Spiegel: „Han en Knarr“ (1972)
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