Herb, aber herzlich
Herb, aber herzlich
von Georg Renöckl
„Wir unterstützen nur die Bakterien, die ohnehin in der Milch drin sind, bei ihrer Arbeit“, erklärt Claire Halleux nicht ohne Tiefstapelei. Vielleicht sollte sie die vielen Goldmedaillen, die sie für ihren Käse bereits verliehen bekommen hat, ihren kleinen Helferlein umhängen. Gemeinsam verwandeln sie täglich 1 200 Liter Rohmilch der hofeigenen Kühe in etwa 220 Käselaibe. Der Maroilles, ein Weichkäse mit quadratischer Grundform und orangefarbener Rinde, ist für sein mächtiges Aroma berühmt-berüchtigt. Er besteht ausschließlich aus Rohmilch und Lab; zweimal wöchentlich werden die Laibe während der sechs- bis zwölfwöchigen Reifezeit im Keller mit Salzlake eingerieben. Den Rest machen die Bakterien, die dank peinlich genauer Hygiene und den richtigen Temperaturen ideale Bedingungen vorfinden.
Der unkomplizierte Käse mit dem starken Charakter passt zu Trappistenbier und zum herben Cidre, der hier in der Gegend ebenfalls hergestellt wird. Vor allem aber passt er zu seiner Herkunftsregion: Manchen ist er ein bisschen zu derb, andere mögen ihn genau deswegen. Er kommt ohne Chichi aus, weil die Zutaten stimmen. Wer ihn einmal für sich entdeckt hat, wird immer wieder auf ihn zurückkommen.
Wehrhafte Vergangenheit
Dass die Thiérache, wie der Landstrich im Norden Frankreichs heißt, deswegen gestürmt wird, kann man nicht behaupten. Ruhiger als hier ist es fast nirgends in Frankreich, doch wer mit offenen Augen durch die bukolische Landschaft fährt, erlebt Spektakel genug. Hauptattraktion des Gebietes sind Wehrkirchen, die aus der Zeit stammen, als das nahe Belgien noch von den spanischen Habsburgern beherrscht wurde. Das sanft hügelige Land an der Oise war damals für die Truppen Karls V. ein Einfallstor nach Frankreich. Die geplagte Bevölkerung baute die Gotteshäuser zu Trutzburgen aus Backstein aus. Backöfen und Brunnen in den Kirchen ließen die wehrhaften Dorfbewohner auch längeren Belagerungen standhalten. Wer nur für eine einzige Besichtigung Zeit hat, sollte nach Parfondeval fahren, das zum exklusiven Club der „schönsten Dörfer Frankreichs“ zählt. Die Kirche des adrett herausgeputzten Backsteindorfes – Ausgangspunkt für einige gut markierte kleine Wanderungen – ist ein Juwel mit einem sehenswerten Renaissanceportal und öffentlich zugänglichen Schutzräumen für die Bevölkerung.
Auch das nahe Jeantes lohnt einen längeren Abstecher: In den 1960er-Jahren hatte das Dorf einen kunstsinnigen niederländischen Pfarrer, der den befreundeten Maler Charles Eyck um ein Wandgemälde für die recht heruntergekommene Kirche bat. Der Maler versprach ein zwei Quadratmeter großes Fresko, verfiel jedoch kurz nach seiner Ankunft in eine schöpferische Ekstase und malte in sechs Monaten den vierhundert Quadratmeter großen Innenraum komplett aus.
Hauptort des Landstrichs ist das nahe Vervins, in dem mit dem „Démocrate de l’Aisne“ eine der bemerkenswertesten Zeitungen Frankreichs ihren Sitz hat: Der „Démocrate“ ist die letzte Zeitung der Welt, die noch im Bleisatz gedruckt wird. Aus dem Jahr 1927 stammt die Linotype-Maschine, die unverdrossen ihren Dienst tut. Dank treuer Abonnenten ist die Zukunft der Zeitung gesichert, auch wenn man nur das Türschild austauschen müsste, um den Ort zum Museum zu erklären.
Erbe der Arbeiterschaft
Tatsächlich sind auch die Museen in der Gegend erstaunlich lebendige Orte: Als „Ecomusée de l’Avesnois“ haben sich vier Museen am Nordrand der Thiérache zusammengeschlossen, die das reiche industrielle Erbe der Gegend, wenn schon nicht am Leben, so doch in der Erinnerung halten. Das Städtchen Fourmies etwa war einmal die Welthauptstadt des Wollfadens. 1825 eröffnete dort die erste Spinnerei, wenige Jahre später waren es 32, die Bevölkerung hatte sich verachtfacht. Die Spinnmaschinen des Museums waren von 1863 bis 1978 in Betrieb und werden heute noch bei Führungen angeworfen. So schön die Maschinen sind, so unerträglich waren die Lebensbedingungen der Arbeiter: Siebenjährige Kinder arbeiteten an sechs Tagen die Woche zehn Stunden lang, Erwachsene fünf Stunden länger.
Eine auf einer ehemaligen Bahntrasse angelegte Radroute führt nach Guise, in die größte Stadt der Region. Hier hatten die mächtigen Herzöge von Guise ihre Burg und im 19. Jahrhundert wurde die Stadt zu einem Zentrum der Schwerindustrie. Der Erste Weltkrieg und die Krisen des 20. Jahrhunderts ließen von beidem wenig übrig. Geblieben ist Guise eine wahr gewordene Utopie. Der Industrielle Jean-Baptiste André Godin setzte hier die Theorien des utopischen Sozialisten Charles Fourier in die Praxis um: Er erhöhte regelmäßig die Gehälter und verkürzte die Arbeitszeit für Erwachsene auf maximal zehn Stunden Arbeit am Tag. Für Kinder galt Schulpflicht. Er ließ helle, luftige Wohnhäuser für die Arbeiter errichten, in denen es fließendes Wasser gab und in deren Innenhöfen Feste gefeiert werden konnten. Die „Familistère“ genannte Anlage hatte ein eigenes Theater und Schulen, in denen Buben und Mädchen gemeinsam unterrichtet wurden. Und schließlich gab Godin auch noch die Macht ab: Entscheidungen wurden nicht vom Eigentümer gefällt, sondern in einer Generalversammlung – bei der auch Frauen Stimmrecht hatten.
Das 1880 begonnene Experiment fand ausgerechnet 1968 ein abruptes Ende. Das Unternehmen wurde von der Konkurrenz übernommen und verkauft, die Gesellschaft aufgelöst. Doch nach wie vor wohnen Menschen im „Familistère“. Und auch das Theater und die Schule sind noch da – ganz so, als würde der Komplex nur darauf warten, dass jemand das Experiment weiterführt.
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