Wo gestern zu heute wird – auf Zeitreise in Marokko
Wo gestern zu heute wird – auf Zeitreise in Marokko
Von Christiane Flechtner
Kann man Stille hören? Alle Sinne sind geschärft, als es schaukelnd auf dem Dromedar durch die Dünen geht. Das tierische Wüstenschiff wandert dabei lautlos und gemächlich durch den feinen Wüstensand. Schwarz wie ein Scherenschnitt zeichnet sich der lange Schatten des einhöckrigen Tieres im orangefarbenen Sand ab. Die wenigen Menschen, die hier sind, haben die Gespräche eingestellt und erleben staunend das Naturschauspiel, was sich vor ihnen auftut. Selbst der Wind ist still und scheint innezuhalten.
In Marokko ist es nicht überall so still wie hier im Erg Chegaga, einem der großen Sanddünengebiete des Landes. Das seit 1956 von der ehemaligen Kolonialmacht unabhängige Königreich hat mehr als nur Wüste zu bieten. Wer zum ersten Mal nach Marokko reist, wird erstaunt sein, wie vielfältig das westlichste der fünf Maghreb-Länder ist. Sand- und Kiesstrände, Wälder und Seen, Berge und tiefe Schluchten sowie Wüsten und Oasen machen Marokko zu einem unvergleichlichen Reiseland.
Start ist in Marrakesch, dem Zentrum Südmarokkos: In der 1,2-Millionen-Metropole kann man die Gegensätze zwischen orientalischer Tradition und modernem Lebensstil hautnah erleben.
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In der Medina verschlucken die engen Gassen das Sonnenlicht. Die Suqs – übrigens mit einer Fläche von rund 200.000 Quadratmetern die größten des Landes – repräsentieren ein gewaltiges, ökonomisches Basarsystem. Die einzelnen Viertel sind traditionell nach Handwerkszweigen und Warenangeboten gegliedert. Es geht durch ein Wirrwarr von engen Gassen, und die Orientierung ist schnell verloren. Die verlockenden Gerüche der Garküchen ziehen vorbei, bunte Stände voller Obst, Oliven und Gewürzen lassen den Blick und die Gedanken schweifen.
Es ist nie zu spät, das eigene Leben zu ändern, wenn man im alten Leben unglücklich ist.
Christine Ferrari
Es geht vorbei am berühmten Djemaa el Fna, dem „Platz der Geköpften“. Einst wurden hier Verbrecher und Rebellen hingerichtet. Ihre Köpfe stellte man so lange zur Schau, bis nur noch ihre kahlen Schädel übrigblieben. Heute ist es der Platz der Gaukler, Schlangenbeschwörer und Berberaffen-Besitzer. Seit 2001 ist der Platz Teil der Unesco-Liste der „Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit“. Das liegt auch daran, dass er nicht für Touristen künstlich erschaffen wurde, sondern es ist auch ein beliebter Ort der Marokkaner. Sie zieht es vor allem am Abend hierher, um Märchenerzählern oder Musikern zu lauschen.
Dann geht raus aus der Stadt – in Richtung Hoher Atlas. Nur etwa 30 Kilometer südlich der quirligen Metropole befindet sich im Ourika-Tal die Safranfarm von Christine Ferrari. Die Schweizerin hat sich nach einer Marokkoreise entschieden, hierher auszuwandern. Seit zehn Jahren pflanzt sie Safran an, erntet und verkauft ihn in höchster, mit Gütesiegel ausgezeichneter Qualität. Die Baslerin hat auf einer Fläche von zwei Hektar in ihrem „Le Paradis du Safran“ einen traumhaften Ort mit rund 200 verschiedenen Pflanzenarten, Pfauen, Hunden und Eseln erschaffen. „Ich habe hier alles, was ich brauche“, sagt die 61-Jährige und fügt hinzu: „Es ist nie zu spät, das eigene Leben zu ändern, wenn man im alten Leben unglücklich ist.“
Während der Erntezeit beschäftigt sie bis zu fünfzig Berberinnen und die Qualität ihres Safrans ist weltweit bekannt. Zusätzlich empfängt sie Touristen und serviert ihnen ein Safran-Mittagsmenü mit frischen Zutaten aus dem Garten.
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Zu Besuch bei den Amazigh
Marokko ist Vielfalt – auch was die Kultur der Menschen betrifft, die hier leben. Die ursprünglichen Bewohner des Landes sind die Berber. Es handelt sich bei dem Begriff um eine Sammelbezeichnung für die indigenen Ethnien der nordafrikanischen Länder. „Das über Jahrtausende existierende Wandervolk hat Marokko geprägt und zu dem Land gemacht, was es heute ist“, erklärt der Marokkaner Brahim Oubaha. Schließlich stellen die Berber im Land mit 80 Prozent die absolute Bevölkerungsmehrheit dar.
Doch bis 2011 seien ihre Sprache Tamazight und ihre Identität nicht anerkannt worden: „Sie wurden unterdrückt und hatten es schwer. Und so ist das Wort ‚Berber‘ heute auch negativ besetzt. Deshalb bezeichnen sich die Berber in Marokko heute als Amazigh, was ‚freie Menschen‘ bedeutet“, fügt er hinzu. In der marokkanischen Verfassung gilt das Marokkanische Tamazight heute als Standard- und Amtssprache– ein wichtiges Zeichen für die Akzeptanz und Sichtbarmachung der Berber im eigenen Land. Auch mit ihrer Kultur und der besonderen Baukunst, den Kasbahs, wird geworben. Die aus Stampflehm errichteten Wohnburgen der Berber befinden sich im Süden Marokkos.
Am nächsten Tag geht es hoch hinauf, um die Straße der 1.001 Kasbahs zu erreichen. Der Bus windet sich durch die Serpentinen immer höher und höher und erreicht – mit den sich schwindelig fühlenden Fahrgästen – einen der großen Atlas-Pässe: Tizi-n-Tichka auf 2.260 Metern Höhe. Das Ziel der Tagestour ist Aït-Benhaddou: Das Ksar (befestigtes Dorf) ist ein wunderschönes Beispiel traditioneller Lehmbauarchitektur der Berber und besteht aus einem Labyrinth an aus Stampflehm errichteten Häusern, Türmen und Kollektivspeichern.
Kein Wunder, dass es seit 1987 zum Unesco-Weltkulturerbe zählt und als Filmkulisse zahlreicher Kinofilme diente. Hier wurden unter anderem Szenen von „Lawrence von Arabien“ oder „Gladiator“, „Indiana Jones“ und „Game of Thrones“ gedreht. Auch der Kasbah von Tizurgane sollte man einen Besuch abstatten: Das Dorf, das auf der Kuppel eines inselartig isolierten Berges liegt, wurde bereits im 13. Jahrhundert gegründet und diente den Berberstämmen als Zufluchtsstätte im Zuge kriegerischer Auseinandersetzungen.
Neben den Kasbahs sind auch die Speicherburgen zahlreich. Vor allem im Anti-Atlas sind die Igoudar, wie sie im Plural heißen, anzutreffen: „Bei den mehr als 200 Bauwerken mit teils bis zu 1.000-jähriger Geschichte handelt es sich um die ersten Banken der Welt“, erklärt Konservator Hassan Nait Louz, der die Speicherburg Ikounka nahe dem Ort Aït Baha betreut. „Um das Hab und Gut zu schützen, haben Dorfbewohner einen Gemeinschaftsspeicher gebaut, in dem der Besitz von Familien – seien es Dokumente, Getreide oder Schmuck – verwahrt und geschützt wurde“, erklärt er. Außen schaut es aus wie eine Burg mit Wachturm, innen wie sich gegenüberliegende überdimensionale Adventskalender. Mit Schlössern gesichert, waren hinter den Türchen die Besitztümer der Dorfbewohner sicher verwahrt. Ein faszinierendes Denkmal aus längst vergangener Zeit …
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In die Stadt der Winde
„Wie eine Fata Morgana, so nah und doch so weit …“ Das Lied der österreichischen Band „Erste Allgemeine Verunsicherung“ im Kopf, führt der Weg am nächsten Tag durch weite Ebenen, an deren Horizont der Gebirgszug des Djabal Bani schemenhaft zu erkennen ist. Die Fahrzeuge fahren auf dem Lac Iriki, eine riesige ausgetrocknete Lehmebene, die sich bisweilen in einen riesigen flachen See verwandelt, wenn es einmal regnet. Dann lassen sich Flamingos hier nieder und bilden als pinkfarbene Tupfen einen starken Kontrast zur Wüstenlandschaft. An diesem Tag ist aber weder Wasser noch ein Flamingo zu sehen. Dafür haben Sonne und Trockenheit tiefe Risse mit bizarren Mustern in die trockene Fläche gezaubert.
Am Abend ist Essaueira erreicht. Die malerische blau-weiße Fischerstadt, die auch „Stadt der Winde“ genannt wird, befindet sich direkt am Atlantik. Rau prallt die Gischt auf die Felsen, während in der Altstadt die Zeit seit Jahrhunderten stillzustehen scheint. Die Medina zählt seit 2001 zum Unesco-Weltkulturerbe, umgeben von der hohen ockerfarbenen Stadtmauer mit fünf Bastionen als schützender Wall. Ob Gewürze oder Kunsthandwerk, kleine Läden lokaler Künstler oder kleine Cafés – wer die kleinen Gässchen durchkämmt, fühlt sich in eine längst vergangene Zeit zurückversetzt. Hier kann man nach Belieben schnuppern, staunen und stöbern. Egal, wie lange man hier verweilt – es ist immer ein wenig zu kurz. Aber das gilt für ganz Marokko. So besteht das Gefühl, dem Land auf seiner Reise nur einen kleinen Teil seines Geheimnisses entlockt zu haben. Aber das ist auch gut so. Denn man kann ja noch einmal wiederkehren.
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