Einmal Uhrmacher sein
Einmal Uhrmacher sein
Schwupps! Blitzschnell springt das Schräubchen von der Pinzette, landet auf der glatten Oberfläche des Arbeitstisches – und bleibt trotz fieberhafter Suche verschollen. Dabei ging der Zusammenbau des kleinen Uhrengehäuses, das in seine Bestandteile zerlegt vor mir liegt, so gut voran. Das Missgeschick nagt am Ego. Doch auch die sechs anderen Mitstreiterinnen und Mitstreiter, die sich in schneeweißen Arbeitskitteln und mit konzentrierten Gesichtern während dieses Workshops in der Manufaktur des Schweizer Uhrenhauses Jaeger-LeCoultre am gleichen Vorhaben versuchen, haben – zu meiner Erleichterung – ihre Probleme mit den Kleinstteilen.
Alles andere würde auch an ein Wunder grenzen, denn um das komplexe Gehäuse des „Reverso“-Uhrenmodells mit seiner Wendevorrichtung, um das es sich in diesem Fall handelt, perfekt zusammenzubauen, bedarf es langjähriger Erfahrung. Hier, im „Atelier d’Antoine“, geht es allerdings nicht um Perfektion, sondern darum, Einblicke in die Kunst des Uhrenmacherhandwerks zu gewinnen. Die nach Antoine LeCoultre (1803–1881), dem Gründer der Maison Jaeger-LeCoultre, benannte Initiative richtet sich nicht unbedingt an Sammler und man muss auch nicht viel Vorwissen besitzen, sondern vor allem eines: eine Leidenschaft für schöne Uhren.
Diese Passion und sein angesammeltes Wissen will auch das Uhrenhaus, dessen Ursprünge in das Jahr 1833 zurückreichen, mit einer breiteren Öffentlichkeit teilen und hat zu diesem Zweck eine Unterrichtswerkstatt im historischen Gebäude der Manufaktur in Le Sentier eingerichtet. An gleicher Stelle hatte einst Antoine LeCoultre die Scheune seiner Familie in ein Atelier umgewandelt, um fortan dort Werke und Uhren von großer Präzision zu fertigen. Nun erhalten im „Atelier d’Antoine“ auch Laien in modernen, lichtdurchfluteten Räumlichkeiten mit Blick auf die malerische Landschaft des Vallée de Joux, einem Hochtal im Schweizer Jura, die Möglichkeit, in die Welt der Uhrmacherkunst einzutauchen. Sie können hier an Seminaren zu verschiedenen Thematiken teilnehmen, die als „Discovery Workshops“ und „Masterclasses“ abgehalten werden.
Heute wird der Kurs von International Sales Trainer Adèle Cresta, die den Workshop mitentwickelt hat, und Edoardo Raino, Ingenieur im Bereich Recherche und Innovation, geleitet. Adèle hilft bei der Montage des Gehäuses mit, während Edoardo derweil ein paar der knapp ein Millimeter großen Schrauben verteilt. Die Dinger haben es wahrlich in sich. „Möchte es jemand mit einer Lupe versuchen?“, fragt Adèle Cresta. Mehrere Hände schnellen hoch, auch meine. Mit Vergrößerungsglas bleibt das Hantieren der kleinen Gehäusekomponenten zwar immer noch schwierig, doch mit dem optischen Gerät vor dem Auge sieht man auf einen Schlag zumindest professioneller aus.
Hinter den Kulissen
Die „Discovery Workshops“ bieten den Teilnehmenden die Gelegenheit, einen Blick hinter die Kulissen der Uhrenfertigung zu werfen. Sie entdecken technische Fähigkeiten, werden mit einzelnen Produktionsschritten und Künstlerberufen vertraut gemacht und erfahren Wissenswertes aus der fast 190-jährigen Geschichte des Uhrenhauses sowie des Vallée de Joux, der Wiege des Schweizer Uhrmacherhandwerks.
Der Workshop zur ikonischen „Reverso“-Uhr beleuchtet Ursprünge und Konstruktion des speziellen Wendegehäuses.
Der Workshop zur ikonischen „Reverso“-Uhr, die 1931 das Licht der Welt erblickte, beleuchtet Ursprünge und Konstruktion des speziellen Wendegehäuses. Edoardo Raino legt eine recht dünne Kunststoffscheibe auf eine Unterlage, stülpt eine knapp zehn Zentimeter lange Röhre darüber und lässt eine Metallkugel hindurchfallen. Mit einem Knall zerbirst die Scheibe in hundert Teile. Vor der Entwicklung von Saphirglas sei das Uhrenglas eine immense Schwachstelle gewesen, erklärt er. Die Idee der „Reverso“ habe darin bestanden, das Gehäuse umzudrehen, um die Uhr besser gegen Stöße zu schützen, damit sie den harten Bedingungen beim Polospielen standhalten könne. Die Entwicklung des Systems zum Wenden und anschließenden Fixieren des Gehäuses in einem Trägerbett war somit revolutionär.
Und dass die Montage der mehr als 50 Komponenten einer solch komplexen Erfindung eine Herausforderung ist, die Geschicklichkeit und Geduld erfordert, wissen nun auch die Laien, die etwas zittrig wieder Hand anlegen müssen. Edoardo Raino hat einen Tipp: „Stellen Sie sich das Ganze als eine Art Schweizer Yoga-Übung vor. Tief ein- und ausatmen, das beruhigt.“ Viele Uhrmacher würden sich dank dieser Methode praktisch von der Außenwelt abschotten und wie in Trance arbeiten.
Doch nicht nur die Funktionsweise, auch das vom Art-déco-Stil inspirierte Design der Uhr mit seiner klaren geometrischen Formensprache wird unter die Lupe genommen, genauso wie die Evolution des Gehäuses, das im Laufe von nunmehr 91 Jahren immer raffinierte Komplikationen wie ein zweites Zifferblatt mit einer anderen Zeitzone, Mondphasen und Tourbillons beinhalten sollte. Die Rückseite bietet sich zudem als Spielwiese für individuelle Verzierungen mit Gravuren und Miniaturmalereien in Emaille oder für mit Edelsteinen besetzte Dekore an.
Die als praktische Tutorials abgehaltenen „Masterclasses“ lehren sogar, wie man aus einzelnen Komponenten ein Uhrwerk zusammenzubaut, ein eigenes Bild in der speziellen Emaille-Technik „Grisaille“ realisiert oder Initialen und Motive auf eine Silberplatte graviert. Diese Workshops kann man mit Manufakturbesuchen kombinieren und bei einem Rundgang durch das Labyrinth aus Ateliers und Werkstätten Uhrmachern und Kunsthandwerkern bei ihrer Arbeit über die Schulter blicken. Die umfassenden Führungen konzentrieren sich dann jeweils auf eine bestimmte Expertise.
Der Fokus kann beispielsweise auf der Geschichte der Maison liegen. Die Heritage Gallery präsentiert eine Auswahl an historischen Uhrenmodellen und -werken. Mehr als 1.200 Kaliber hat JaegerLeCoultre inzwischen entwickelt: einzigartige Komplikationen und sogar das seit 1929 kleinste mechanische Uhrwerk, das Kaliber 101, das immer noch zum Einsatz kommt. Die Archive beherbergen zudem Pläne und Patente, Käuferlisten und sogar historische Komponenten, die bei Restaurierungsarbeiten von unschätzbarem Wert sind.
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Komplexes leicht erklärt
Die Visite kann auch dem technischen Know-how gewidmet sein. Beim Modell der „Reverso“ heißt dies: den kompletten Herstellungsprozess nachvollziehen – von der Verarbeitung des Rohmaterials zu Werken und Gehäuseteilen bis zur Veredelung der technischen Komponenten und der Montage von Uhrwerk, Gehäuse und Zifferblatt –, Uhrwerke mit großen Komplikationen entdecken und im „Atelier des métiers rares“ Emailleure, Graveure und Edelsteinfasser dabei beobachten, wie sie Gehäuse in Kunstwerke verwandeln. Alle Gewerke sind nämlich an einer einzigen Adresse angesiedelt – selbst die Produktionsateliers für die Komponenten, wie etwa die letzte Schraube, die ich noch festzurren muss, um mein „Reverso“- Gehäuse fertigzustellen.
Dieses gleitet nun mühelos über eine Schiene nach hinten, lässt sich mit einer Handbewegung wenden und rastet dann mit einem leichten Klicken in seinem Trägerbett ein. Adèle Cresta, Edoardo Raino und ihre Lehrlinge blicken zufrieden in die Runde. Und da sogar das verloren gegangene Schräubchen wie von Geisterhand unter einem Kugelschreiber wieder auftaucht, ist meine Uhrmacher-Ehre wieder hergestellt.
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