Das Erbe der Verwegenen
Das Erbe der Verwegenen
Wenn ein Unternehmersohn im zarten Alter von 18 Jahren zum Millionär wird, bloß weil ihm die wohlhabenden Eltern einen Vorschuss aufs Erbe auszahlen, dann lässt das meist nichts Gutes erahnen. Manche Zeitgenossen werden über den in Paris lebenden Brasilianer Alberto Santos-Dumont (1873-1932) sicherlich auch den Kopf geschüttelt haben. Darüber, dass er sich beeindruckende Autos leistete, dass er mit seinen Angebeteten angeblich in Champagner badete und dass er auf mannshohen Stühlen zu speisen pflegte. Aber wohl auch darüber, dass er sein Vermögen in das Erfinden verschiedenster Flugobjekte steckte. Schließlich befand sich die Fliegerei damals noch in den Kinderschuhen.
Doch die mehr als 20 Fortbewegungsmittel, die der unerschrockene Jules-Vernes-Fan um das Jahr 1900 herum konstruierte – Heißluftballons, Luftschiffe und später auch Flugzeuge – machten ihn zum Pionier der modernen Luftfahrt. Auch wenn er auf dem Weg dahin einige, teils recht spektakuläre Unfälle verbuchen musste. So musste die Feuerwehr ihn etwa von der Fensterbank eines Hotels retten, auf die er sich mit einem beherzten Sprung gerettet hatte, nachdem sein Luftschiff das Dach gestreift hatte und daraufhin in Flammen aufgegangen war.
Exzentrik trifft Stilbewusstsein
Seine kompakten Luftschiffe soll der Visionär, der seine Konstruktionspläne stets der Öffentlichkeit zur Verfügung stellte, aber nicht nur zu Wettkampfzwecken und zur Rekordjagd eingesetzt haben. Der Überlieferung nach habe Santos-Dumont seine Flugobjekte auch im Alltag genutzt, etwa um sich mit Bekannten auf einen Drink zu treffen. Sein schwebendes Gefährt soll er nach der Landung mitten auf den Straßen von Paris einfach an einen Laternenpfosten festgebunden haben.
Besondere Freunde erfordern besondere Gepflogenheiten, möchte man meinen. Die Liste seiner Bekannten liest sich jedenfalls wie das Who's who der Epoche. Darunter Jules Verne, Gustave Eiffel und Louis Cartier. Letzterer tat seinem Freund einen speziellen Gefallen: Weil die damals gängigen Taschenuhren für Piloten recht unpraktisch waren, wünschte sich Alberto Santos-Dumont einen Zeitmesser, der sich am Handgelenk befestigen lässt, um die Zeit stets im Auge behalten zu können. Während seiner immer länger werdenden Flüge konnte es schließlich nicht schaden zu wissen, wie lange der Treibstoff noch reichen würde.
Dass Louis Cartier 1904 tatsächlich eine Uhr für Santos-Dumont kreierte, die neben einem Lederarmband auch noch mit einem quadratischen Gehäuse ausgestattet war, war keine Selbstverständlichkeit. Schließlich lief der angesehene Juwelier mit seinem ungewöhnlichen, wenn nicht gar befremdlichen Design, das von den Bauwerken und der Technik der damaligen Zeit inspiriert war, Gefahr, bei seinen High-Society-Kunden anzuecken. Da der Zeitmesser jedoch als Geschenk für seinen modemutigen Freund gedacht war – die Uhr wurde erst einige Jahre später kommerziell vertrieben –, schien ihn das nicht zu kümmern. „In diesem Sinne war auch Louis Cartier auf seinem Gebiet überaus kühn, ein richtiger Pionier“, schwärmt Pierre Rainero, der als Head of Heritage and Style das Cartier-Erbe hütet. „Dass jemand Etabliertes, der sogar Königshäuser mit seinen eleganten Kreationen belieferte, sich traute, etwas derart Zweckdienliches zu entwerfen, ist durchaus bemerkenswert.“
Auf Nummer sicher
Dass Cartier nun so weit in die Vergangenheit zurückgegriffen und seine älteste Ikone mit ein paar Neuerungen versehen hat, um sie in die Gegenwart zu katapultieren, darf allerdings als weniger „bold“ (verwegen) und „fearless“ (furchtlos) – so die offiziell propagierten Hashtags zum Relaunch – interpretiert werden, als es das Traditionshaus zugeben mag. Vor dem Hintergrund des Brancheneinbruchs vor vier Jahren spielt mit hoher Wahrscheinlichkeit mehr als der bloße Stolz auf das eigene Erbe eine Rolle. Das Interesse der Uhrenaficionados an gut erhaltenen Vintagemodellen ist so groß wie nie. Diesen Trend greift die Branche nur zu gerne mit entsprechenden Retro-Modellen auf. Hat man zudem eine spannende Geschichte zu erzählen und kann eine Uhr somit emotional aufladen, ist die Gefahr, mit einer Lancierung eine Bruchlandung hinzulegen, auf ein absolutes Minimum reduziert.
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