Wiessel mol d'Scheif: Protestrock gegen Rechtsruck
Wiessel mol d'Scheif: Protestrock gegen Rechtsruck
„Es macht ja sonst keiner”. Das sagt Sänger Dirk „Dicken“ Jora dazu, dass Slime auch nach fast 40 Jahren immer noch offensive, pointierte und vor allem politische Texte veröffentlichen. Und er hat Recht: So wie Slime macht es tatsächlich keiner. Deren aktuelles Album „Hier und Jetzt“ strotzt vor Kraft – musikalisch wie verbal. Und Jora weiß um die Kraft der Worte, die er singt, nicht erst seit er 1984 einen Trupp gewaltbereiter Neonazis mit den Worten „Sonst gibt es auf die Fresse, so satt und lang, wie ihr noch nie in eurem Leben auf die Fresse gekriegt habt! Klar, oder was?“ von einem Slime-Konzert verscheuchte.
Der kantige Blonde mit dem dreckigen Organ eines Hamburger Dockarbeiters, bei dem sich auch schon mal „Kouhlä“ auf „Pistoulä“ reimt, hat in seiner Karriere harte Texte gesungen; Refrains, die zu Slogans für die deutsche Antifa geworden sind, Vergleiche, an denen man sich reibt, Zeilen, die auch schon mal wehtun.
„Deutschland muss sterben, damit wir leben können“ ist wohl die bekannteste Parole, eine bockige Antwort auf den nationalpathetischen Kriegerdenkmal-Spruch „Deutschland soll leben, und wenn wir sterben müssen” am Hamburger Dammtorbahnhof. Der Zensur sprang das Lied von der Schippe, weil das Bundesverfassungsgericht es als Kunst definierte und inhaltliche Ähnlichkeiten zu „Die Weber“ von Heinrich Heine aus dem Jahr 1844 sah („Deutschland, wir weben Dein Leichentuch“). Und weil die Kritik an einem Kriegerdenkmal-Deutschland, für dessen zweifelhaften Ruhm junge Männer sich freiwillig verheizen ließen, vielleicht doch nicht so undifferenziert ist, wie sie am Anfang daher kommt.
Erwachsene Texte von einem jungen Kollegen
Und „Hier und Jetzt“? Für das aktuelle Album holten Slime sich interessante Unterstützung. Unter anderem der Text zu "Sie wollen wieder schießen dürfen" stammt aus der Feder des erst 25-jährigen Songwriters Max Richard Leßmann, der sonst eher genrefremd arbeitet, zum Beispiel Texte für die Schlagersängerin Mary Roos geschrieben hat.
Auch weitere Gäste wie Rod Gonzalez von den Ärzten oder die Rapper von Irie Révoltés brachten sich ein. Die Mischung funktioniert und ergibt Texte, die differenzierter und erwachsener, aber nicht weniger hart sind als die alten Parolen, und dazu dank einer - endlich einmal - professionellen, druckvollen Studioproduktion auch gut verständlich. Und diese Texte sind, man muss es sagen, vor dem Hintergrund eines europaweiten Rechtsrucks wichtig und berechtigt.
Es geht um Nationalismus, Solidarität (oder das Fehlen derselben unter Linken), Gentrifizierung in Hamburg („Ich kann die Elbe nicht mehr seh'n”) und immer wieder das übergeordnete Thema: Antifaschismus, den Kampf gegen Rechts. Die Richtung ist die Gleiche wie in den frühen 1980ern, doch die Aussagen sind eleganter, vielleicht auch eher konsensfähig.
„Ihr seid gar nichts außer Deutsch”
Mit Leuten, die ihr Deutschsein vor sich her tragen, haben Slime nach wie vor ein Problem („Ihr habt Angst vor allem, wir haben keine Angst vor euch, wir sind alles, wir sind viele, Ihr seid gar nichts, außer deutsch” heißt es in „Patrioten”) und man hört es nicht zuletzt daran, wie Jora das Wort „deutsch” förmlich rausrotzt.
„Unrecht” ist, ähnlich wie der etwas zu pathetisch geratene Titelsong „Hier und Jetzt” ein Rückblick auf vierzig Jahre Punkdasein - mit der Erkenntnis, dass die verbale Härte nötig war: „Ich hätte lieber Unrecht, schon seit dem ersten Ton, schon seit den ersten Worten, die ich sang. Wir hörten, wie sie riefen 'All das ist vorbei', während es im Stillen neu begann” - ein glasklarer Hinweis auf die AfD, die wenige Tage vor der Veröffentlichung von „Hier und Jetzt” in den Bundestag einzog.
Mehr Hemingway als Heine
„Die Geschichte des Andreas T.” befasst sich in schlaglichthaften Zeilen mit der rechtsterroristischen NSU-Mordserie, bei der V-Männer wie der titelgebende Andreas T. Rollen spielten, die bis heute nicht geklärt sind - und im NSU-Prozess wohl auch nicht mehr geklärt werden. „Andreas surft in einem Internetcafé in Kassel, als NSU-Mitglieder eine scharfe Waffe zieh'n, Halit Yosgat stirbt in einem blutigen Schlamassel, Andreas lässt ne Münze liegen, der NSU kann flieh'n.” Das ist in all seiner Reportagehaftigkeit nun eher Hemingway als Heine, erfüllt aber den Zweck: Die Erinnerung an einen der größten Justizskandale der jüngeren deutschen Geschichte.
Über den pubertären Refrain („Andreas T. pisst im Steh'n absichtlich daneben und wird vom Verfassungsschutz dafür fürstlich honoriert”) mag man geteilter Meinung sein - die Geschichte dahinter (der deutsche Verfassungsschutz bezahlt Kontaktleute im Nazimilieu, die bei einem rassistisch motivierten Mord nachgewiesenermaßen am Tatort sind, sich aber damit herausreden, zur fraglichen Zeit auf der Toilette gewesen zu sein) ist allerdings so frappierend, dass sowohl der V-Mann als auch seine Auftraggeber mit dieser Textzeile vielleicht besser leben können als mit ernsthafteren Interpretationen. Ein elegant gesetzter Wirkungstreffer der Altpunks gegen das System.
Musikalisch gereift dank guter Produktion
Auch musikalisch sind Slime gereift, nicht zuletzt dank Bassistin Nici und des exzellenten Drummers Alex Schwers, die 2010 dazustießen und den Bandsound sauber organisieren. Aus dem Rumpelpogo von einst wurde zorniger Rock mit hohem Tempo und jeder Menge Druck. Und einer Aussage. „Hier und Jetzt” soll politisieren, so Nici: „Wenn dieses Album der Soundtrack zu einer neuen solidarischen Protestbewegung werden würde, hätten wir alles erreicht.”
Das Zeug dazu hätte es allemal: „Hier und Jetzt” überzeugt als runde Punkplatte mit großen Melodien, thematisch angemessener Härte und einer sehr gründlichen Produktion. Die stammt von Oliver Zülch, der sonst Bands wie Die Ärzte oder Sportfreunde Stiller betreut. „Wir konnten uns den eigentlich gar nicht leisten, aber er hatte Bock auf Slime”, verrät Sänger Jora. Nicht nur er.
Artikelfoto: Slime Hafenrock 2016 / Wikimedia Commons / Frank Schwichtenberg unter CC BY-SA 3.0
Anmerkung vom 23. Oktober: Im Abschnitt über den Song "Die Geschichte des Andreas T." stand in einer vorherigen Version eine Interpretation, die auf einer falsch wiedergegebenen Textzeile beruhte. Wir haben den Fehler korrigiert und damit auch die Interpretation angepasst. Danke, Slime, für den Hinweis.
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