Mini-Oper und Klagelieder
Mini-Oper und Klagelieder
Von Vicky Stoll
Moses Sumney dürfte namentlich den Wenigsten geläufig sein, jedoch kennt man seine Stimme vielleicht aus der neuesten Single des Cinematic Orchestra oder aus dem Vorprogramm von Indie-Größen wie Sufjan Stevens oder Beck. Wer seinen Horizont in Sachen experimenteller Popmusik erweitern möchte, dem seien Soft Grid aus Berlin ans Herz gelegt: Mit ihren ausufernden Kompositionen sprengen sie das Songkonzept und schaffen ihr eigenes Genre.
Soft Grid – Corolla
Menschen mit offenen Ohren und Melomane, die sich aus dem Gewohnten heraus mal etwas weiter aus dem Fenster lehnen wollen, sollten sich unbedingt das Debütalbum „Corolla“ von „Soft Grid“ aus Berlin anschaffen. „Herzog on a Bus“ – vielleicht ein Wortspiel um drei Ecken, man denke an den Herzog-Film „Into the Abyss“– ist eine einzige Genreorgie. In 7:40 Minuten rast man mit Werner Herzog auf einem Roadtrip einmal quer durch die jüngere Musikgeschichte und streift dabei Progressive-Landschaften, Kraut-Felder und Industrial-Wüsten, um am Ende entspannt jazzig am Abgrund der Ambient-Schlucht auszufransen.
Der Albumtitel „Corolla“ ist passenderweise anscheinend eine Hommage an das gleichnamige Automodell. Nur leicht gezähmter als der Eingangstrack gibt sich „Hospital Floor“. Ein Kanon-artiger Chor eröffnet das Stück: Thematisch geht es um eine Heilanstalt, deren erwähnter Korridor in den Stimmen als Toneffekt nachhallt. Auch hier lässt man sich Zeit mit dem Aufbau, um nach anderthalb Minuten in ein Gitarrenriff zu münden, das in Kombination mit dem prominenten Bass und dem Xylophon an Yo La Tengo erinnert. Schön, wie sich die alternierenden Stimmen von Jana Sotzko und Theresa Stroetges in der Wiederaufnahme der Anfangszeilen leicht brechen, bevor es dann in den noisigen letzten Teil des Tracks geht.
Mit dem fast dreizehnminütigen „Minus Planet“ gibt es einen Abstecher in die Minimal Music, bis die Gitarre sich in den Klangteppich einwebt und den Übergang in einen völlig anderen Teil leistet. Das Ganze entpuppt sich als eine Mini-Oper mit verschiedenen dramatischen Akzenten und einem deutlich erkennbaren Spannungsbogen. In diesem Album steckt mehr drin als in so mancher zehnalbigen Diskografie.
Moses Sumney – Lamentations
Die EP „Lamentations“ ist ein Beispiel für modernes Singer/Songwriting, das verschiedenste neue Impulse in sich aufnimmt, ohne nach Patchwork zu klingen. Das Herzstück der fünf Stücke ist Sumneys kehlig-samtene Stimme, die im Mix sehr nah und intim durchkommt. Passenderweise begleitete Sumney den ihm in musikalischer Hinsicht sehr nahestehenden James Blake auf dessen Headliner-Tour. Nach einem atmosphärischen Aufbau setzt die spröde Gitarre von „Ascension“ ein, gefolgt von Sumneys sanfter Stimme, die im Falsett so eindringlich von Reue und Gnade lamentiert, dass man kurz innehalten muss, um zu lauschen.
Sumney beschäftigt sich in seinen Klageliedern mit Verfehlungen, seelischem Schmerz, Hoffnungslosigkeit und dem Versuch, diese dunklen Gefühle „auszuatmen“, wie er in einem offenen Brief schreibt. In „Worth It“ arbeitet er mit einem Vocoder, orientiert sich dabei an Kollegen wie Bon Iver und Imogen Heap, und liefert ein mit nur ganz minimalistischen Beats ausgestattetes kleines Kunstwerk von einem Song. Das formidable „Lonely World“ vereinigt alle starken Züge der EP zu einem unwiderstehlichen Poplied, bevor sich Sumney in einer auf hebräisch gesungenen Beschwörung mit dem unheimlichen „Incantation“ verabschiedet.
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