Konzentrierte Desillusion
Konzentrierte Desillusion
Von Vicky Stoll
Als Radiohead vor gut zwei Wochen ihre Internetpräsenz auf allen Kanälen entweder ganz löschen oder langsam digital verblassen ließen und als kurz zuvor englische Fans mysteriöse Postkarten mit der Aufschrift „Burn The Witch“ in ihren Briefkästen fanden, war klar: Die Band hat etwas Großes in der Pipeline. Fünf Jahre nach dem letzten Album „The King Of Limbs“ ist am vergangenen Sonntag nun der Nachfolger „A Moon Shaped Pool“ erschienen.
Radiohead gelten als risikobereite Band, die schon einige Lanzen im Musikbusiness gebrochen haben, sei es beispielsweise mit einer radikalen musikalischen Neuorientierung (siehe die Alben „Kid A“ und „Amnesiac“) oder im Umgang mit dem Vertrieb ihrer Werke (für die digitale Version des 2007 erschienenen Albums „In Rainbows“ durfte der Käufer selbst entscheiden, wie viel er zahlen möchte). Das neue Album birgt keinen solchen bahnbrechenden Überraschungseffekt.
Zwischen Hexenverbrennungen
und Tagträumen
Das London Contemporary Orchestra eröffnet das Album in „Burn The Witch“ mit einem dramatischen Streicherstaccato, das nur in den ersten wenigen Sekunden irgendwie unangenehm an Coldplay erinnert. Dies legt sich schnell durch das Ertönen einiger schräger Töne, die paradoxerweise für einen ganz angenehmen Störfaktor sorgen. Spätestens wenn Thom Yorke mit dem Satz „This is a low flying panic attack“ zum Refrain anhebt, entsteht diese bedrückende Dramatik, für die Radiohead so bekannt sind.
Die zweite Single „Daydreaming“ bremst den Schwung des Anfangs gehörig aus und überzeugt durch eine simple und direkte Instrumentierung. Yorke singt vom unbelehrbaren Träumer, der seine Taten nicht rückgängig machen kann. Gegen Ende, als würde dies die Aussage ungeschehen machen, hört man den Satz „I’ve found my love“ rückwärts abgespielt. Im Titel „Decks Dark“ glänzt Yorke durch seine markante Prosodie. Auch hier erweist sich der Alleskönner Johnny Greenwood einmal mehr als Genie des geschmackvollen Arrangierens, Klavier und Streicher bilden dabei den Mittelpunkt. Thematisch handeln die meisten Lieder von dem Gefühl, an einem ernüchternden Tiefpunkt angelangt zu sein, der sich wie so oft als Scheideweg entpuppt.
So äußert Yorke beispielsweise in „Decks Dark“ die Überzeugung, dass es verschiedene Arten von Liebe gebe. „Ful Stop“ saugt den Hörer in einen hypnotischen Bann und mündet in überraschend markerschütternder Weise in dem entwürdigenden Bettelgang des Verlassenen mit „Take me back, you really messed up this time“. „Glass Eyes“ beschreibt das Gefühl des Betäubtseins, durch das die leise aufsteigende Panik verdrängt und der Alltag nur mehr mit Gleichgültigkeit wahrgenommen wird. Das folgende „Identikit“ kommt wieder dynamischer daher und bildet den Höhepunkt des Albums. Anfangs entsteht der Eindruck, Thom Yorke singe in einer zu großen Halle vor sich hin.
Selbstzitate und die Erinnerungen an die 1990er-Jahre
Instrumentalisch erinnert es durch die puritanische Kombination von reinem Schlagzeug und Gitarre an eine narkotisierte Version von „15 Steps“, bis Yorke mit seiner vollkommen desillusionierten Botschaft in den Vordergrund tritt: „Sweet-faced ones with nothing left inside, that we all can love“. Im zweiten Teil des Chorus wird er durch einen verhuschten Frauenchor und die Akkorde eines Omnichords unterstützt und das Lied gewinnt mit der Zeile „Broken hearts, make it rain“ an elegischer Schwere. „The Numbers“ bildet zu Anfang eine psychedelische Atmosphäre, die entfernt an Pink Floyd erinnert, während die Streicherarrangements eher Led Zeppelins „Kashmir“ evozieren, und es funktioniert.
Fans der Band werden durch „Present Tense“ in die Phase von „OK Computer“ (1997) zurückversetzt – in dem Lied klingen durch den Einsatz von Gitarre, Schlagzeug und Chor zwei der bekanntesten Lieder Radioheads auf, „Karma Police“ und „Paranoid Android“. Geschlossen wird der Longplayer von einem Song, den viele Fans schon von Konzerten aus den 90er-Jahren kennen, „True Love Waits“. Ob der Titel des Songs und die abschließende Aufforderung „Just don’t leave“ als Fazit und letzte Ansage Thom Yorkes gelten dürfen, bleibt offen. Es ist jedenfalls beeindruckend, wie konstant Radiohead ihre Anhänger mit hochwertiger und authentischer Musik beliefern.
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Radiohead – A Moon Shaped Pool, Produzent: Nigel Godrich, Musiklabel: XL Recordings, Digitalalbum (€ 11,50) seit 8. Mai verfügbar, Vinyl (€ 25 ) u. CD (€ 13) ab 17. Juni im Handel
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