Holocaust: Das Unfassbare zeigen
Holocaust: Das Unfassbare zeigen
Während die einen Regisseure sich hier dem Faktischen verpflichtet auf die Dokumentation festlegen, greifen andere auf eine fiktionale Form zurück, um gerade das Emotionale und die Identifikation des Zuschauers mit den Figuren und dem Geschehen zu potenzieren. Eines haben beide Gruppen gemein: Sie gehen das schwierige Thema so sensibel wie möglich an – selbst dann, wenn sie die unerwartete und gewagte Form der Komödie wählen.
Aus einer Unmenge Produktionen, die den Holocaust direkt oder indirekt thematisieren, eine selektive Auswahl markanter Produktionen, die es lohnt (wieder) zu entdecken ...
Der Eingemottete: „German Concentration Camps Factual Survey“ (1945)
Ganze 69 Jahre lang ist die britische Dokumentation „German Concentration Camps Factual Survey“, deren Produktion von Sidney Bernstein geleitet wurde, in der Schublade verschwunden, weil wie ein Memo des „Foreign Office“ später verdeutlichte, 1945 die Vorführung eines solchen „ ,Gräuelfilms‘ keine gute Idee“ sei.
Zwar werden 1984 Teile des Films, an dem Alfred Hitchcock als Berater mitarbeitete, in der Dokumentation „A Painful Reminder: Evidence for All Mankind“ gezeigt, doch es brauchte Historiker des Imperial War Museum, um 2014 die Bilder, die von Briten u. a. in Dachau, Buchenwald und Bergen-Belsen und sowjetischen Soldaten in Auschwitz und Treblinka aufgenommen wurden, in „Memory of the Camps” so zu zeigen, wie es ursprünglich angedacht war.
Filmemacher und Anthropologe André Singer erzählt 2014 in seinem Channel-4-Film-über-den-Film „Night Will Fall“ die komplexe Entstehungsgeschichte dieser außergewöhnlichen Produktion.
Der Schauerlich-Sanfte: „Nuit et brouillard“ (1954)
In nur 32 Minuten Film gelingt 1954 dem französischen Regisseur Alain Resnais mit „Nuit et brouillard“ durch eine Mischung aus Schwarz-Weiß-Zeitdokumenten und Aufnahmen in Farbe, die Resnais in Auschwitz und Majdanek dreht, eine der markantesten Dokumentationen über den Holocaust, die in Frankreich Jahrzehnte lang zum Standardwerk für eine schulische Thematisierung dient.
Für den Text des Films zeichnet Jean Cayrol, ehemaliger Häftling des KZ Mauthausen verantwortlich. „Toute la force du film réside dans le ton adopté par les auteurs: une douceur terrifiante. On sort de là ravagé, confus et pas très content de soi“, fasst Regisseur François Truffaut 1956 diese inhärente Stärke des Films in seiner „Cahiers du cinéma“-Kritik zusammen.
Der Skandalträchtige: „Kapò“ (1959)
„L’homme qui décide à ce moment de faire un travelling avant pour recadrer le cadavre en contre-plongée, en prenant soin d’inscrire exactement la main levée dans un angle de son cadrage final, cet homme n’a droit qu’au plus profond mépris“, empört sich in den „Cahiers du Cinéma“ Filmkritiker Jacques Rivette 1961 in seinem flammenden Beitrag „De l’abjection“ über „Kapò“ (1959, F/I/YU) des Italieners Gillo Pontecorvo.
Der Film erzählt die Geschichte der jungen Jüdin Edith, die, um zu überleben, selbst zum Kapo, zur Aufsichtsperson über ihre Mitgefangenen wird.
Wie weit ein Filmemacher in seiner Darstellung des Holocausts gehen kann bzw. darf ohne in Voyeurismus zu verfallen wird hier erstmals als grundlegende Frage der Moral öffentlich zur Sprache gebracht und diskutiert.
Der Popularisierende: "Holocaust" (1978)
„Unwahr, beleidigend, billig: als Fernseh-Produktion ist dieser Film eine Frechheit für die, die gestorben sind, und für die, die überlebt haben“, empörte sich der Holocaust-Überlebende Elie Wiesel in einem Beitrag in „The New York Times“ über die 1978er-US-Fernsehproduktion „Holocaust“ von Marvin J. Chomsk.
Trotz aller Romantisierung hat der TV-Vierteiler, der dieses dunkle Kapitel der Menschheitsgeschichte durch die Figuren der jüdischen Familie Weiss und der deutschen Dorfs, u. a. verkörpert durch bekannte Schauspieler wie James Woods, Meryl Streep oder Michael Moriarty, erzählt, den Verdienst den für viel Menschen abstrakt anmutenden Begriff „Holocaust“ aus den Geschichtsbüchern heraus in die Realität des Alltags zahlloser Wohnzimmer zu bringen.
Der Ausführliche: "Shoah" (1985)
Nahezu 570 Minuten lang, lässt der französische Filmemacher Claude Lanzmann in seinem Monumentalwerk „Shoah“ aus dem Jahr 1985, an dem er ab 1974 zwölf Jahre lang arbeitete, Überlebende des Holocausts ebenso wie Täter, Augenzeugen und Historiker zu Wort kommen.
Ihm gelingt so nicht nur eine eingängige und zudem gänzlich andere Art der Aufarbeitung, sondern auch eine formale Tour de Force: einen Film über den Holocaust zu realisieren, ohne dabei Zeitdokumente zu benutzen.
Lanzmanns Filmrohmaterial – 185 Stunden Interviews und 35 Stunden Drehortsaufnahmen – ist seit 1996 in den Beständen des United States Holocaust Memorial Museum und der Gedenkstätte Yad Vashem aufbewahrt, die sie allen Nutzern digital zugänglich gemacht haben.
Das (Alb-)Traumfabrik-Projekt: „Schindler’s List“ (1993)
Überaus kritisch – als „kitschiges Melodrama“ – äußert sich Lanzmann derweil über das Projekt mit dem sich 1993 der Blockbuster-garant und Meister der Traumfabrik, Steven Spielberg höchstpersönlich, des Holocaust annimmt.
Auf Thomas Kenneallys mit einem Booker-Prize ausgezeichneten „Schindler’s Ark, the Story of Oskar Schindler’s“ basierend, erzählt „Schindler’s List“ wie der deutsche Industrielle Oskar Schindler Hunderten Juden das Leben rettete, indem er sie in seiner Fabrik beschäftigte.
Der – abgesehen von einem kleinen Mädchen in blutrotem Mantel – in für Hollywood zu der Zeit ungewohnter Schwarz-Weiß-Optik gedrehte Film schlägt nicht nur künstlerisch Wellen: 1994 gründet Steven Spielberg die seit 2006 an die University of Southern California angegliederte „Shoah Foundation, The Institute of Visual History and Education“, die seitdem Interviews von Holocaustüberlebenden und Zeitzeugen aufnimmt und verwahrt.
Der Nachhall des Films beschränkt sich heute demnach nicht nur auf seine unverkennbare Titelmelodie, denn inzwischen wurden 115 000 Minuten Zeugenaussagen zum Holocaust und weiteren Völkermorden in 65 Ländern und 43 Sprachen gesammelt.
Der Komödiantische: „La vita è bella“(1997)
Der Holocaust als Komödie? Was per se unmöglich erscheint, macht 1997 „La vita è bella“ des italienischen Regisseurs und Schauspielers Roberto Benigni wahr, dessen eigener Vater zwei Jahre in Bergen-Belsen interniert war, – und zwar ohne dabei je ins Lächerliche oder Lachhafte zu verfallen.
Darin versucht er als Vater Guido seinem kleinen Sohn Giosuè den undenkbar grausamen Alltag im KZ als Spiel, bei dem es einen Panzer zu gewinnen gibt, zu erklären.
Mit drei Academy Awards, u. a. den für den besten Schauspieler, wird Benignis Mut und sein Fingerspitzengefühl für diesen formalen Kraftakt verdient belohnt.
Der Universelle: "Der neunte Tag" (2004)
Auch Luxemburg trägt zur Aufarbeitung des Holocaust bei, denn „Der neunte Tag“ () des deutschen Filmemachers Volker Schlöndorff inspiriert sich an „Pfarrerblock 25487“, den Erinnerungen an die Internierung im Konzentrationslager Dachau des Luxemburger Geistlichen Jean Bernard (1907–1994), der von 1944 bis 1957 Chefredakteur des „Luxemburger Wort“ war.
Durch die beiden Hauptfiguren – Ulrich Matthes als Abbé Henri Kremer und August Diehl als SS-Untersturmführer Gebhardt – und einen Hafturlaub von neun Tagen erforscht das emotional aufreibende Kammerspiel unterschiedliche Dimensionen des moralischen Konflikts durch eine Thematisierung der Treue und Loyalität, ebenso wie die der Schuld und Vergebung – was dem Film eine universelle Dimension verleiht.
Der naiv-kindliche Blick: „The Boy in the Striped Pajamas“ (2008)
2008 versucht sich mit „The Boy in the Striped Pajamas“ der Brite Mark Herman an der Verfilmung von John Boynes gleichnamigen Jugendroman.
Dieser erzählt den Holocaust durch Kinderaugen – und die Freundschaft des jungen Bruno, Sohn eines Nazi-Schergen, der Shmuel, einem im benachbarten KZ internierten jüdischen Jungen, näherkommt.
Wenngleich stellenweise eine der Perspektive des kindlichen Blickes geschuldete, gewisse Naivität mitschwingt, schafft der Film zugleich eine solide Ausgangsbasis für eine Thematisierung mit einer jüngeren Zuschauerschaft.
Der Unerträgliche: "Son of Saul" (2015)
Auch nachdem die Welt Jahre lang mit Bildern der Vernichtungslager konfrontiert war, gelingt dem ungarischen Filmemacher László Nemes 2015 mit „Son of Saul“ ein beklemmender, in seiner Intensität so zuvor noch nie gesehener Film, der mit einem Golden Globe, einem Oscar und dem Grand Prix des Filmfestivals von Cannes ausgezeichnet wurde.
Erreicht jede Holocaust-Darstellung die Grenze des Erträglichen, so durchbricht Nemes diese mit der Geschichte des Juden Saul, der als Mitglied eines „Sonderkommandos“ die Leichen seiner Leidensgenossen aus der Gaskammer schaffen muss.
Als er in einem toten Jungen den eigenen Sohn zu erkennen glaubt, macht er sich nämlich auf, ihm ein richtiges Begräbnis zuteil werden zu lassen.
Wenn es einen Film gibt, der das Unfassbare der Schoah ganz ohne Klischeebilder zu zeigen vermag, dann ist dies „Son of Saul“.
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