Harte Denkanstöße zum Ende von Esch2022
Harte Denkanstöße zum Ende von Esch2022
Dicht an dicht fügt sich die Ausstellung „Pure Europe“ in die alte Möllerei ein. Statt einst den Rohstoffen für die „Möller“ – die Bestandteile der Hochofenmischung – lagern nun werthaltige Informationen in den Nischen und bespielbaren Freiflächen auf den Etagen des Baus mitten in Belval. Vielleicht ist die letzte der vier Esch2022-Ausstellungen in der sanierten Industriebrache so auch schon ein Fingerzeig für die mögliche Zukunft nach dem Kulturhauptstadtjahr. Genauer: wie eine weiterführende Arbeit in dem Bau aussehen könnte.
Ähnlich wie früher die aneinandergereihten Bestandteile für den Schmelzvorgang fügen sich die Themenkapitel des Projekts „Pure Europe“ zusammen. Dabei ist das Endprodukt eine Zusammenarbeit von dem Esch2022-Organisationsbüro mit dem luxemburgischen Unternehmen Historical Consulting um die Historiker Pit Péporté und Sophie Neuenkirch sowie dem niederländischen Studio für Ausstellungsdesign tinker imagineers. Wer das ist? Historical Consulting hat sich in den letzten Jahren einen breiten Kundenkreis von Museumsinstitutionen, dem Staat und Gemeinden geschaffen und erarbeitete unter anderem die Schau zur Geschichte der Burg Vianden.
In Belval wird schnell klar: So „Pure“ wie der Titel es suggeriert, ist es nicht. Europa wirkt wie ein heterogenes Gemisch, in dem die Debatte nie stillsteht, in dem die Unterschiede die Gemeinsamkeiten überwiegen. Und überhaupt: Europa, was ist das? Eine politische Einheit? Ein Friedenswerk? Ein Identitätsraum? Eine Wirtschaftszone? Den Veranstaltern zufolge stelle die Schau „Stereotypen über den Kontinent infrage, indem es ihn aus neuen und ungewöhnlichen Perspektiven betrachtet“. Und weiter fragt sie: „Gibt es Aspekte, die ‚rein‘ europäisch sind, oder ist es nur ‚rein‘ europäisch in seiner spezifischen Vielfalt?“
Anhand seiner groben Orientierung anhand von sechs Attributen, die „Europa“ scheinbar in den Köpfen der Meisten am ehesten beschreiben, rückt die Schau ihren Kernen näher: „kultiviert“ „weiß“, „reich“, „christlich“, „alt“, „nationalistisch“. Stimmt das denn? Ist denn Europa wirklich so reich? Dominiert die „weiße“ Hautfarbe und die damit möglicherweise verbundene Mentalität? Gar, wie rassistisch ist Europa? Gibt es diese abendländisch christlichen Werte, die immer wieder gerne ins Feld geführt werden? Oder sind sie Mittel zur Ausgrenzung?
Diese Fragestellungen unterfüttert die Schau in den nach den Attributen geteilten Kapiteln mit anschaulichen Bildern. Statistikdaten werden in dreidimensionale Installationen gepackt.
Dazu kommen Beispiele für und gegen die Attribute, meist Situationen und Faktenlagen aus dem Alltag sowie markante Geschichtsmomente, manchmal Rückgriffe auf historische Wurzeln, denen sich mal mehr, mal weniger zu Recht bedient wird.
Wenn die Selbstbespiegelung unangenehm wird
Dabei kann es durchaus auch mal unangenehm, für manchen vielleicht sogar hart werden, wenn die Vorurteile zur Selbstbespiegelung werden. Wer will schon als Luxemburger feststellen, dass er deutlich mehr verdient oder sozial besser abgesichert ist, als Menschen in anderen Teilen Europas. Aber auch, dass die Modelle wie eben die Sozialversicherungen bei immer weniger jungen Einzahlern nicht so gehalten werden können.
Diese Ausstellung ist insofern perfektes Ausgangsmaterial für alle Art Initiativen der politischen Bildung, Schulen und Lehrstrukturen. Dabei geben sich Ausstellungsmacher, es den Betrachtern so einfach und interessant wie möglich zu machen. Mal mit bekannten Gesichtern, mal mit Kunst, mal mit dem Vergleich von Mentalitäten und Kulturen, mit spielerisch eingebauten interaktiven Elementen.
Zudem wird die Schau sogar von Broschürenmaterial in leichter Sprache unterfüttert und senkt so mögliche Hemmschwellen.
um weitere Bilder zu sehen.
Sie selbst sieht sich dabei als Impulsgeber: „Die Ausstellung will jedoch keine endgültigen Antworten geben, sondern zum Nachdenken anregen. Durch den regelmäßigen Wechsel der Perspektive – von Nord nach Süd, von Ost nach West, vom Zentrum Europas zu seinen Rändern – lädt sie die Besucher ein, sich mit ihren Vorurteilen auseinanderzusetzen und sich eine eigene Meinung zu bilden.“
In der Bilanz ist sie eine leicht selbst in andere Länder übertragbare Ausstellung, die weite Brückenschläge macht. Im Extrem stellt sie sogar die Fortexistenz Europas infrage und löst damit implizit einen Appell aus: „In einer Zeit, in der sich die globale Macht nach Osten verlagert, extreme Nationalismen die Stabilität untergraben und der Krieg in der Ukraine die Flüchtlingskrise verschärft, konfrontiert die Ausstellung mit verschiedenen Perspektiven. Nach einer Periode globaler wirtschaftlicher und kultureller Dominanz im 19. Jahrhundert stellt sie die Frage: Ist Europa im Begriff, wieder zu einer bloßen Provinz der Welt zu werden?“
Bei dem finanziellen Aufwand und dank der allgemein offenen Thematik wäre es doch zumindest eine Überlegung wert, ob die Schau mit etwas Anpassung nicht doch noch über die Möllerei hinaus zirkulieren könnte. Ob in die Luxexpo-Hallen, die Däichhal in Ettelbrück oder andere diverse Hallen von Gemeinden – Räume gäbe es dafür doch bestimmt.
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Noch bis zum 26. Februar in der Möllerei Belval (Eingang über das Besucherzentrum Esch2022), 3, Avenue des Hauts-Fourneaux, Eintritt: 7 Euro (erm. 5 Euro), frei unter 21 Jahren, Studenten unter 26 Jahren und Kulturpassinhaber, Führungen ohne Reservierung samstags und sonntags ab 15 Uhr, Veranstaltungen ergänzen die Schau. Mehr unter:
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