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Ganz schön gruselig
Kultur 1 3 Min. 18.11.2018 Aus unserem online-Archiv

Ganz schön gruselig

Das Familiendrama geht nicht spurlos an Hugh Craine (Timothy Hutton) und Tochter Nell (Violet McGraw)
 vorbei.

Ganz schön gruselig

Das Familiendrama geht nicht spurlos an Hugh Craine (Timothy Hutton) und Tochter Nell (Violet McGraw)
 vorbei.
Foto: Steve Dietl/Netflix
Kultur 1 3 Min. 18.11.2018 Aus unserem online-Archiv

Ganz schön gruselig

Vesna ANDONOVIC
Vesna ANDONOVIC
Die kleine Nell reißt entsetzt die Augen auf und der Zuschauer liest in ihrem Blick genau das, was auch seinen eigenen Puls in die Höhe treibt, seine Handflächen plötzlich feucht werden und seine Atmung stocken lässt: nackte Angst. Und die sucht einen nicht nur beim Zuschauen von „The Haunting of Hill House“ heim, sondern auch danach.

Das ungute Gefühl, das den Zuschauer bereits bei den ersten Takten der Titelmusik der neuen Netflix-Serie „The Haunting of Hill House“ beschleicht, hat etwas Vertrautes – und somit umso Beklemmenderes an sich. Kein Wunder, erinnert die Melodie der Newton Brüder doch eine Spur weit an die, die Ramin Djawadi für „Westworld“ komponierte.

Und das ist nicht die einzige Parallele, die die neue Horror-Serie von Netflix zur HBO-Produktion hat: Auch in der Erzählstruktur inspiriert sich Mike Flanagan, der für Drehbuch und Regie verantwortlich zeichnet und 1978 bezeichnenderweise unter einem für das Genre augenscheinlich besonders wohlwollenden Stern in Salem geboren wurde, an „Westworld“ und setzt auf stete Zeitsprünge zwischen Jetztzeit und Vergangenheit.

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Das ist gewagt und fordert einerseits eine gehörige Portion Konzentration mehr vom Publikum, um die einzelnen Charaktere zuzuordnen und sich deren Positionierung auf dem Erzählbrett selbst zusammenzureimen – funktioniert aber andererseits genau deshalb geradezu diabolisch gut. Schon nach den ersten Minuten ist klar: „The Haunting of Hill House“ hat es in sich! Dies ist umso überraschender und demnach erfreulicher, da die Geschichte nach einem 1959 veröffentlichten Roman der amerikanischen Schriftstellerin Shirley Jackson bereits wiederholt auf großer Leinwand erzählt wurde – 1963 von Robert Wise und 1999 von Jan de Bont.

Vom Genre-Übervater Stephen King höchstpersönlich als einer der besten Horror-Romane des 20. Jahrhunderts gepriesen, greift Jacksons Werk das vertraute Schema der klassischen „Gothic novel“, wie sie ähnlich bereits 1794 Ann Radcliffe mit ihrem „The Mysteries of Udolpho“ benutzte, auf – und demonstriert dabei die Macht der Suggestion.

Das Grauen schlummert tief in uns allen

Im Vergleich zum Original erlaubt sich Serienmacher Flanagan eine Erweiterung der Figurenpalette (Shirley und Steven werden hinzugedichtet) und eine Konstellationsänderung (Eleanor, Theo und Luke werden hier zu Geschwistern). Beides schadet dem Geist der literarischen Vorlage nicht, ganz im Gegenteil. Genau wie Jackson und Radcliffe vor ihr, setzt auch Flanagan in seiner Adaptierung auf den tief in der menschlichen Psyche verwurzelten Terror statt auf Splatter- und Horroreffekte: Das wahre Grauen spielt sich im Kopf ab, nicht auf dem Papier bzw. Bildschirm – Schreckmomente gibt es dabei natürlich auch, und zwar gut dosiert.

Mit genau dieser Art rationaler „Alles nur im Kopf ...“-Erklärung versucht auch der Familienvater Hugh Craine (Timothy Hutton) seinen Nachwuchs Steven, Shirley, Theodora, Luke und Nell zu beruhigen, als sich die unheimlichen Ereignisse, wie nächtliches Hundegebell, mysteriöse Klopfgeräusche und Erscheinungen in dem riesigen Haus, das sie neuerdings bewohnen, vermehren. Das Tudor-Schlösschen will Hugh mit Ehefrau Olivia (Carla Gugino) auf Vordermann bringen und dann verkaufen, um durch den so erwirtschafteten Gewinn endlich ein wahres Heim für die Familie, das „Forever Home“, zu bauen.

Geschickt eingesetzte Tonspur

Doch dann kommt alles ganz anders: Olivia ist tot und die ganze Familie traumatisiert ... Sprung in die Jetztzeit: Inzwischen sind die Kinder zu Erwachsenen geworden – Steven ist als Horrorautor erfolgreich, Shirley betreibt ein Bestattungsunternehmen, die beziehungsunfähige Theodora kann die Welt nur mit Handschuhen berühren und Luke ist zum Junkie geworden. Als Nesthäkchen Eleanors psychische Probleme ein tragisches Ende finden, scheinen die inneren Dämonen aller endgültig freigesetzt und das Grauen nimmt seinen Lauf.

Das Serienformat bietet Regisseur und Zuschauer gleichermaßen den Luxus der Zeit, um in die Psychen der Charaktere einzutauchen, ein Prozess, der durch die schlüssige Besetzung, die äußerst geschickt eingesetzte Tonspur und die gepflegte Kameraarbeit, die ein wirkungsvolles Set-Design inszeniert, tatkräftig unterstützt wird.

Und auch wenn – ohne zu Spoilern – die Auflösung der ersten Staffel sicherlich nicht nach Jedermanns Gusto sein dürfte, so schön gegruselt hat man sich schon lange nicht mehr – was an dieser Stelle Motivation und Warnung zugleich sein sollte, in diese Serie mit Suchtpotenzial einzusteigen.

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Die zehn jeweils 50-minütigen Folgen der ersten Staffel von „The Haunting of Hill House“ sind auf Netflix abrufbar.


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