Filmkritik der Woche - "Streik!": Neue Mythen braucht das Land
Filmkritik der Woche - "Streik!": Neue Mythen braucht das Land
Von Pol Schock
Eine junge Studentin (Eugénie Anselin) steigt hinab in den Keller des Nationalarchivs. Hinter ihr ein leicht grantiger Beamter in den besten Jahren (Marco Lorenzini), vollgepackt mit angestaubten Akten und Dokumenten. Die Studentin ist auf der Suche nach der Geschichte des „einfachen Arbeiters“. Sie müsse diese im Keller aufspüren. Denn: „D'Geschicht vu Lëtzebuerg ass éischter vun deenen do uewe geschriwwen ginn, erof diktéiert vum Luxemburger Wort a vum Patronat“.
Andy Bausch lässt seinen neuen Dokumentarfilm „Streik!“, den der OGBL anlässlich des 100. Jubiläums der freien Gewerkschaften in Auftrag gegeben hat, mit einer altbewährten Erzähltechnik beginnen: Eine junge, wissbegierige Person hinterfragt das gängige Geschichtsbild und will eine alte Verschwörung aufdecken – ähnlich wie es beispielsweise Steven Spielberg 2011 mit seiner Comic-Verfilmung „The Adventures of Tintin“ inszenierte.
Doch was dramaturgisch zur Erzeugung von Spannung hervorragend funktioniert, macht den Dokumentarfilm mit geschichtswissenschaftlichem Anspruch eher problematisch. Denn während der folgenden 100 Minuten wird die Geschichte der Arbeiterschaft, der Gewerkschaften und des Streiks als eine von der Obrigkeit bewusst verschwiegene Geschichte dargelegt. Ein Trugschluss.
„Streik!“ – benannt nach dem Stummfilm des sowjetischen Regisseurs Sergei Eisenstein aus dem Jahr 1925 – ist eine Huldigung an die Streiks in der Geschichte Luxemburgs. Bausch lässt sie 1867 mit dem Abzug der preußischen Garnison beginnen. Zur gleichen Zeit gründeten sich erste Arbeiterverbände wie der „Luxemburger Buchdruck-Verein“ und es kam zu Arbeitsstilllegungen. Es ist die Phase des industriellen „Take off“ in Luxemburg: Eisenbahnlinien werden gebaut, Hütten und Hochöfen im Minett errichtet und das Großherzogtum wird vom Emigrations- zum Immigrationsland.
Doch während sich das Wirtschaftsbürgertum am neuen Wohlstand bereichert, müssen die Arbeiter unter widrigen hygienischen Bedingungen arbeiten und hausen. Kinderarbeit, 15-Stunden-Arbeitstage, keine Versicherungen und gesellschaftliche Missachtung – die Welt von gestern war kein schöner Ort.
Der Dokumentarfilm, der mithilfe der Historiker Denis Scuto und Marc Limpach entstanden ist, zeigt, wie die Arbeiterschaft sich nach und nach organisierte und erfolgreich Rechte und Anerkennung erkämpfte. Das probate Mittel: der Streik. 1905, 1912, 1916, 1919, 1921, 1942, 1958, 1973 ... chronologisch arbeitet sich der Film bis in die Gegenwart durch.
„Géint déi Déck“
Bausch greift dabei auf die gängigen Stilmittel des Genres zurück: So genannte „Reenactments“, in denen historische Szenen neu inszeniert werden, emotionale Zeitzeugeninterviews, historische Film- und Audioaufnahmen, Comicadaption, historische Dokumente sowie die Rahmenhandlung im Archiv. Es ist eine angenehme visuelle Mischung – von Bausch bereits in mehreren Dokumentarfilmen ausprobiert und zuletzt in „D'Belle Époque“ optimiert.
Doch je länger der Film dauert, desto mehr nehmen Zeitzeugeninterviews überhand. Schließlich wird der Film im letzten Drittel mit Interviews von Jean-Claude Reding und André Roeltgen gar zum PR-Film des OGBL.
Der Streik wird dabei geradezu idealisiert. Bilder von protestierenden Arbeitern werden mit romantischer Folklore unterlegt. Doch hierin liegt mithin das Deutungsproblem des Films. Es darf bezweifelt werden, ob die Herrschenden die Arbeitergeschichte bewusst leugnen. Denn das Bild des leidenden Arbeiters muss nicht erst erschaffen werden – es gehört zu den gängigen Erzählungen spätestens seit den 1970er-Jahren. Der Film will folglich Mythen widerlegen, die nicht existieren.
Eine solche Abrechnung mit fiktiven Drachen des Landes ist eigentlich schade: Der Film verspielt dadurch seine Chance, einen nuanciert-kritischen Blick auf die Sozialgeschichte des Landes zu werfen – so ist es eine etwas simple Erzählung der Erfolgsgeschichte der Gewerkschaft(en) des Landes.
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