Filmkritik der Woche : Eine Lektion in Geschichte
Filmkritik der Woche : Eine Lektion in Geschichte
Von Vesna Andonovic
Filme über den Holocaust gibt es unzählige: dokumentarische, dramatische, gar solche, die im Register des Humors angesiedelt sind. Ihre wiederkehrenden Elemente sind tief im Unterbewusstsein verinnerlichter Teil der Ikonografie des Abendlandes: bellende Schäferhunde, Stacheldraht, schwarz-weiß-gestreifte Anzüge, ausgemergelte Körper, Duschköpfe, die Gas verströmen, Züge, Kleider- und Leichenberge, Rauch, Verbrennungsöfen. All dies hat man schon – mit mehr oder minder Realismus, Emotionen und historischer Akkuratesse – etliche Male auf der großen wie der kleinen Leinwand gesehen. Und dennoch, so eindrucksvoll, wie sie László Nemes in seinem „Saul Fia“ – „Der Sohn von Saul“ – inszeniert, definitiv noch nie.
Denn dem ungarischen Regisseur gelingt es dank des Einsatzes aller dem Film als Medium zur Verfügung stehenden formalen Mittel – Bild, Schnitt und Ton – den Zuschauer buchstäblich nach Auschwitz zu versetzen. Eine Erfahrung, die man nicht so schnell vergisst und die richtig schmerzlich ist – und das definitiv auch sein sollte.
Denn auf viele Emotionen ist man zwar bei besagter Thematik gefasst, wie sie jedoch durch eine geradezu sachlich-nüchterne Zeichnung und ganz leise Zwischentöne noch verstärkt werden, ist – ganz buchstäblich – atemberaubend.
Dass der Regisseur beim letzten Filmfestival von Cannes den Großen Preis der Jury, den Fipresci-Filmkritikerpreis und den „François Chalais“-Preis, sowie den der Filmkritiker bei der diesjährigen Auflage des „CinEast“-Festivals erhielt, ist wahrlich kein Wunder. Dass dies nicht allein, aus ersichtlichen Gründen einer politischen Korrektheit auf das angeschnittene Thema – den Holocaust – zurückzuführen ist, bleibt dabei jedoch das Besondere an dieser Produktion. Denn Nemes' Opus – nach drei Kurzfilmen, seine erste Spielfilmarbeit – legt eine Handwerklichkeit zutage, wie man sie so meisterlich verarbeitet selten im Kino sieht. Vielleicht liegt dies ja daran, dass er als Sohn des ungarischen Regisseurs András Jeles – ein klein wenig so wie Obelix – ins Filmgeschäft hineingefallen ist, als er noch klein war.
Die Geschichte, die Nemes, gemeinsam mit Clara Royer ebenfalls verantwortlich fürs Drehbuch, erzählt, ist die des Sonderkommando-Mitglieds Saul Ausländer, der in Auschwitz glaubt, unter den Toten seinen Sohn zu erkennen und sich aufmacht, den kleinen Leichnam vor den Verbrennungsöfen zu „retten“, um ihm ein richtiges Begräbnis zu geben.
Pragmatisch wirkungsvoll
Der Holocaust ist aus zumindest zwei Gründen ein überaus sensibles Thema: wegen seiner zeitlichen Nähe – denn es gibt noch Zeitzeugen, die ihn erlebt haben – und des eigentlich grundlegend Unaussprechlichen seines Grauens. Denn wie ein Mensch seinem Nächsten solches Leid überhaupt zufügen kann, übersteigt jegliche Vorstellungskraft. Diese zieht zurecht eine verstärkte Aufmerksamkeit und höhere Polarisierungsgefahr nach sich – man erinnere sich nur an Jacques Rivettes „De l'abjection“, der 1959 Regisseur Gillo Pontecorvo vorwarf, in seinem „Kapo“ eine Kamerafahrt als ästhetisierendes Stilmittel benutzt zu haben.
Nemes vermischt auf überaus pragmatische und wirksame Weise einen dokumentarischen Ansatz – auch wenn es kaum einem Zuschauer auffallen mag: auf Filmmusik wird durchweg verzichtet – mit dem Empathie weckenden Potenzial der fiktiven Figur dieses Vater, der, indem er einem Toten ein richtiges Begräbnis gibt, in gewisser Weise allen Opfern ein stückweit ihre Menschenwürde zurückzugeben versucht. Getragen von hervorragend schlüssigen Darstellern, allen voran Leinwandneuling Géza Röhrig als Saul, lässt Nemes seine Figuren, wie durch einen mentalen Wall von der Brutalität der Realität abgekapselt, in wiederkehrende Bildunschärfe umgesetzt, umherwandern und zersprengt diese mittels der geradezu brutal invasiven Unmittelbarkeit seiner Tonspur.
Ein schmerzvoll intensiver Film, der selbst dem abgebrühtesten Zuschauer zusetzen wird, und den man – gerade deshalb – gesehen haben muss.
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