Feilen am Klang der Gegenwart
Feilen am Klang der Gegenwart
Von Pol Schock
Mai 2012. Ein gewisser François Hollande hat mit „Moi président de la République“ gerade seinen größten Hit gelandet. Sein Auftritt vor Millionenpublikum im Fernsehen verschafft ihm die nötigen Sympathiepunkte – sein Kontrahent, Nicolas Sarkozy, hat keine Chance. Der „Parti Socialiste“ triumphiert. Aufbruchstimmung in Frankreich. Zur gleichen Zeit in Leeds: Eine junge, nerdige Indieband mit kryptischem und fast unaussprechlichem Namen veröffentlicht ihr Debütalbum: alt-J.
Fünf Jahre können manchmal unterschiedlich wahrgenommen werden: Während „Moi président“ nach einer Erinnerung an die Welt von gestern klingt, wirkt das Debütalbum von alt-J noch heute, genau wie der Titel es intendierte, – wie „An Awesome Wave“. Die Band surfte durch die Genre und fabrizierte einen Flüsterfolk mit Kopfstimmen, Blechbläsern und Streichern, ohne Schwulst. Was wird musikalisch von den 10er-Jahren des 21. Jahrhunderts übrig bleiben? Sicherlich dieses Album.
Nach einem erfolgreichen zweiten Album 2014 haben alt-J nun kürzlich ihr drittes Werk „Relaxer“ veröffentlicht. Dabei muss die Band gerade ähnliches erfahren, was andere gefeierte Indiebands bereits zuvor erfuhren. Mit dem Erfolg steigt der Druck, wachsen die Erwartungen – und die Kritiker hören genauer hin.
Und so erhält das Album demnach auch eher durchwachsene Kritiken: Von Pitchfork.com über Musikexpress und Rolling Stone zu Plattentests.de – die Fachpresse ist wenig überzeugt. Und in der Tat: Beim ersten Hörgang wirkt das Album wie eine entschlackte Version der beiden Vorgänger – weniger Pepp, weniger Pop, weniger Power.
Doch es wäre ein Fehler, „Relaxer“ gleich abzuschreiben. Denn es handelt sich um einen sogenannten „Grower“ – die Songs wachsen mit jedem Hörgang. Etwa gleich der Opener „3WW“. Die progressive Struktur erinnert an die späten 60er Jahre, als Bands mit psychedelischen Klängen und atypischen Instrumenten Popmusik neu definieren wollten. Auch „Hit Me Like A Snare“ geht in eine ähnliche Richtung – selbst wenn der Song rockiger daherkommt und durch die nasale Stimme von Joe Newman dann doch eher an die Rolling Stones erinnert.
Wer den verspielten Sound von alt-J schätzt, wird sich schnell mit „In Cold Blood“ anfreunden können. Die „Lala-lala-la-la“-Bridge klingt vertraut, das Gitarrengefrickel und die Thematik auch. Als echter Groover erweist sich „Deadcrush“. Das liegt nicht nur an der fließenden Basslinie sondern auch am Chorusgesang von Newman. Doch eigentlich war es das bereits an Highlights. Die Coverversion von „House of The Rising Sun“ ist belanglos: weder eine Ode an das großartige Original von The Animals, noch eine relevante Neudeutung. Und eher mittelmäßig sind auch die drei Schlusssongs des Albums. Was bleibt ist ein ordentliches Indiealbum. Nicht mehr, nicht weniger.
Wer sich jedoch vom musikalischen Gesamtwerk einer der wichtigsten Bands der Gegenwart überzeugen lassen will, sollte heute Abend ihren Auftritt im Neimënster nicht missen. Vor historischer Kulisse sollte ihr nerdig-verspielter Sound hervorragend funktionieren. Karten gibt es noch auf www.atelier.lu.
Der Mann des 21. Jahrhunderts
Nur unmittelbar vor alt-J traten Balthazar in Erscheinung. Eine Band, die diese Zeitung schon mehrmals als „best kept secret“ Belgiens tituliert hat. Mittlerweile haben sich Balthazar von ihrem subversivem Indiedasein emanzipiert – man füllt große Konzerthallen und spielt zu besten Festivalzeiten.
Und weil das vielleicht alles zu groß wurde, haben die Mitglieder vergangenes Jahr beschlossen, ein Sabbatical einzulegen. Allerdings ein äußert kreatives. Denn bereits Anfang des Jahres veröffentlichte Sänger Maarten Devoldere (der Blonde) mit seinem Projekt Warhaus ein Soloalbum: eine großartige Komposition im Geiste von Leonhard Cohen (zu sehen beim Food For Your Senses Festival).
Nun legt Sänger Jinte Deprez (der Braunhaarige) nach. Mit Hipster-Vollbart, kryptischem Namen und vor allem sehr lässig-coolem Sound. Mit Devoldere und Deprez verhält es sich dabei fast wie mit dem berühmtesten Musikpaar der Popgeschichte: Während Devoldere eher das Verkopfte und Schwere eines Lennons verkörpert, sind es bei Deprez die Melodien, Hymnen und das Gefühl für guten Pop à la Paul. Denn J. Bernardt hat einen echten Groover produziert: klare Popmelodien mit einem RnB-Fundament, Blechbläsern, Synthies und einem Schuss Weltschmerz. Und anstelle der Gitarre rückt das Klavier.
Insofern klingt J. Bernardt ein wenig wie alt-J. Doch während das Album des Leedser Trios zur Mitte hin dramatisch an Qualität abnimmt, gelingt es J. Bernardt, ein kohärentes Ganzes zu produzieren. Zwar sind auch hier mit „Calm Down“ und „The Other Man“ die besten Songs zu Beginn des Albums platziert, aber dennoch gibt es zum Ende hin keinen Abbruch.
Ergo: Ein starkes Solodebüt! Und dennoch hofft man, dass es nur bei einem Intermezzo bleibt und Deprez und Devoldere ihre Fähigkeiten bald wieder vereinen: Wir warten auf die Wiederkehr von Balthazar.
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