Drei Alben, drei Welten
Drei Alben, drei Welten
Von Vicky Stoll
Sommersongs, Zeilenpoesie und Latin-Flavour: die neuen Alben von Autumn Sweater, Terry Reid und Michel Houellebecq im Hörtest
Lieder für den Sommer
Autumn Sweater spielen College-Rock vom Feinsten. Konträr zum Bandnamen hat man beim Hören eher die Tendenz, die Sonnenbrille aufzusetzen, das Verdeck zu öffnen und Richtung Süden zu fahren.
Die vier Jungs von Autumn Sweater haben ihre erste EP First Session Anfang dieses Jahres im Studio eines Freundes aufgenommen und stellen ihre sechs feinen Lieder gratis oder zu einem frei wählbaren Betrag auf ihrer BandCamp-Seite zum Download bereit. Neben den unaufdringlich eingängigen Melodien sticht vor allem die sehr individuelle Gitarrenarbeit heraus, die jedem Lied gleich mehrere Wiedererkennungsmerkmale verpasst.
„Lipstick“ und „Some Place Beyond“ können sich mit den Indie-Sommer-Hits der momentan nicht schlecht gehypten Band Whitney messen, Stimmung und Gesang überzeugen aufgrund ihrer unaufgeregten Popaffinität. „Sitting Here“ ist dagegen ein richtiger Kracher, der neben coolem Sprechgesang in den Strophen über einen unwiderstehlichen Mitsingrefrain verfügt. Die Songproduktion, warm und nahbar, kommt sehr charmant daher und steht internationalen Acts des gleichen Genres in nichts nach.
Übrigens, bei Autumn Sweater handelt es sich um eine Band aus Luxemburg, die man sich am 1. August in den städtischen Rotondes neben anderen Hochkarätern dieses Musikgenres (inkl. Whitney) im Rahmen des Rotondes-Festivals „congés annulés“ ansehen kann.
Alte Schätze
Zu Terry Reid, der aufgrund seiner expressiven und extrem variablen Stimme den Spitznamen „Superlungs“ trägt, gibt es die Legende, dass er erst Jimmy Page einen Korb gab, als dieser einen Sänger für seine neue Band Led Zeppelin suchte, und später ebenfalls die Rolle des Leadsängers bei Deep Purple ablehnte.
Dies sagt einiges über die Qualitäten des britischen Sängers und Gitarristen Terry Reid aus. Nun hat man 43 Jahre nach der Veröffentlichung seines Kultalbums River Tonbänder mit unveröffentlichten Sessions gefunden. Diese hat man abgemischt und unter dem Namen The Other Side of the River veröffentlicht.
Wer Bluesrock à la Crosby, Stills Nash and Young und Led Zep oder auch Fleetwood Mac mag, sollte zugreifen. Denn diese Erstveröffentlichung von bisher unbekannten Tracks und alternativen Versionen hat es in sich. Reids Stimme ist unfassbar variabel: auf „Avenue“ und „Anyway“ tobt er sich in Gefilden aus, die man eher Robert Plant zuschreibt, während er auf „Things To Try“ erst nach Tim Buckley, dann nach dessen Sohn Jeff Buckley klingt. Unbestrittene Perle dieser Platte ist die wunderschöne alternative Aufnahme von River, die die Originalaufnahme um Längen schlägt.
Der entspannte lateinamerikanische Einschlag bei vielen Songs ist dem puerto-ricanischen Perkussionisten Willie Bobo und dem brasilianischen Gitarristen Gilberto Gil zu verdanken. Reid zeigt hier noch eine weitere Facette seiner unwahrscheinlich wandelbaren Stimme. Durch das Remastering der ehemals verschollenen Aufnahmen hört sich das Album sowohl auf CD als auch auf Vinyl einfach hervorragend an.
Poetisches
Die wenigsten wissen, dass der Schriftsteller Michel Houellebecq, der zuletzt mit seinem Roman „Soumissioun“ für Aufsehen sorgte, vor 16 Jahren ein Album mit dem Titel Présence Humaine veröffentlicht hat, auf dem er seine Texte zu Tonstücken des korsischen Komponisten Bertrand Burgalat spricht.
Stilistisch kann man das Album neben Serge Gainsbourg einordnen, wenngleich Houellebecqs Texte weitaus poetischer und verdichteter klingen als die seines Landsmannes. Dieses Album aus dem Jahr 2000 wurde nun von dem französischen Label Tricatel, das übrigens 1995 von Burgalat gegründet wurde, erstmalig auf Schallplatte veröffentlicht. Zudem erscheint ein CD-Digipack mit zwei unveröffentlichten Tracks.
Dass eine Wiederauflage dieses Albums Sinn ergibt, wird unmittelbar nach dem ersten Hördurchgang deutlich. „Célibataire“, in dem Houellebecq nicht ohne Anzüglichkeiten eine Zugfahrt beschreibt („Nous roulons protégés au milieu de la Terre et nos corps se resserrent dans les coquilles du vide, au milieu du voyage nos corps sont solidaires, je veux me rapprocher de ta partie humide.“), klingt mit seinem monoton wummernden Synthesizer unter der gesetzten Stimme des Autors sehr modern und frisch.
Unterliegt die erste Hälfte des Albums einer sehr dynamischen Abwechslung, so glänzt die B-Seite im Zeichen vor allem durch entspannt dahinpurzelnde Beats und gelöste Gitarrenklänge.
Das achteinhalbminütige „Plein Été“, ein französischer Slow, bildet den Höhepunkt der Sammlung – ein lebensmüder Müßiggänger berichtet trocken von seinen Beobachtungen am Strand, er selbst bleibt passiv und greift nicht ins Geschehen ein. Der Text ist ein Panaché aus vier verschiedenen Gedichten, musikalisch erhebt sich regelmäßig eine brachiale Welle über die wiederkehrenden Zeilen des Refrains. Freunde frankofonen Sprechgesangs und vertonter Poesie kommen an diesem Album nicht vorbei.
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