Ziemlich viel Gegenwind für vorerst null Revolution
Ziemlich viel Gegenwind für vorerst null Revolution
Von Cornelie Barthelme (Berlin)
In Berlin grüßt an diesem 1. März 2023 der Frühling - aber Annalena Baerbock darf sich warm anziehen. Am Vormittag hat sie ihre lang angekündigten Leitlinien für eine feministische Außenpolitik im Kabinett vorgestellt - jetzt, am Mittag, steht die deutsche Außenministerin von den Grünen gemeinsam mit ihrer SPD-Kollegin aus dem Entwicklungsressort, Svenja Schulze, vor dem Kanzleramt und sagt: „Feministische Außenpolitik ist eine Selbstverständlichkeit.“
Dass sie das nicht ist, weiß Baerbock natürlich. Nicht in Deutschland, nicht in Europa. In Schweden etwa hat man sich nach acht durchaus erfolgreichen Jahren gerade erst wieder davon verabschiedet; der neue konservative Außenminister Tobias Billström zog nur Stunden nach seinem Amtsantritt einen Schlussstrich unter die Politik der sozialdemokratischen Vorgängerregierung. Begründung: Er halte nichts von „Etiketten“.
Baerbock fängt nun an - und der Gegenwind kommt prompt und von allen Seiten. Noch ehe ihr 88-Seiten-Konzept überhaupt offiziell in der Welt ist, ätzt schon die Schriftstellerin Jagoda Marinić in der „Süddeutschen“ aufgrund von ein paar Zeitungsmeldungen, was sie lese, klinge nach „einer Frauenbeauftragten der Achtzigerjahre“.
Ohne Debatte im Parlament
Marinić vertritt die Enttäuschten, denen Baerbocks Konzept zu klein ist. Im Kabinett hat die das Werk - begleitet von Schulze, die eines für „feministische Entwicklungspolitik“ erarbeitet hat - gerade mal nur vorgestellt. Beschlossen wird nichts, und im Bundestag noch nicht einmal debattiert.
Für die Unwilligen, denen Baerbocks zehn Leitlinien für gleiche Berücksichtigung von Frauen schon zu viel sind, holt kurz vor der Präsentation Bijan Djir-Saraij, Generalsekretär der FDP, die ja mit Grünen und SPD regiert, ganz tief Luft. „Das ist ein Begriff“, giftet er, „ich mag’s lieber, wenn die Dinge konkret sind.“ Und dann reibt er Baerbock noch hin, sie lasse „die Frauen im Iran im Stich“ und nennt es „absurd, in so einer Situation über feministische Außenpolitik zu sprechen“.
Dieser Furor ist keine Überraschung; die FDP tat sich mit Baerbocks Plan schon in den Koalitionsverhandlungen schwer; das Wort „feministisch“ kommt im ganzen Ampel-Vertrag nicht vor. Der wahre Kern in Djir-Sarajs Kritik: Als die EU jüngst beschloss, die iranischen Revolutionsgarden nicht als Terrororganisation einzustufen - bestand Berlin nicht auf dem Gegenteil.
In ihrem Vorwort zu den Leitlinien schreibt Baerbock, es gehe darum, „einen ,feministischen Reflex’ auszubilden“. Und zwar einerseits in der Außenpolitik und andererseits auch im Auswärtigen Amt selbst, also im Ministerium und im diplomatischen Dienst. Aktuell hat Deutschland gerade mal ein Viertel Botschafterinnen.
Streit mit dem Kanzleramt
Im Kanzleramt - das mit dem Auswärtigen ohnehin im Dauerstreit liegt über Diplomatie und Politik in Zeiten des Neusortierens der Welt - gefällt weder Begriff noch Anspruch. Und den Skeptikern in und jenseits von Regierung und Parlament bietet allein die Sprache der Leitlinien reichlich Stoff für Attacken, weil sie das Reizwort „gender“ im Dutzend aufgreift - von „gendersensibel“ über „gendergerecht“ und „genderresponsiv“ bis zu „gendertransformativ“.
Dabei ist das grundsätzliche Anliegen ja durchaus leicht verständlich. Es geht Baerbock - und auch Schulze - um „die drei großen Rs“: Frauen sollen an jedem Ort der Welt dieselben Rechte, dieselben Ressourcen und dieselbe Repräsentanz haben und nutzen können wie Männer. Bei ihrem kurzen Auftritt vor dem Kanzleramt nennt Schulze Beispiele: das Recht auf die Selbstbestimmung, etwa von wem und wann Frauen schwanger werden; den Zugang zu Bildung, zum Gesundheitssystem, zu Land und zu Krediten; das Eingebundensein in die Entscheidungen von Gesellschaft, Wirtschaft, Politik.
Wir rufen ja heute keine Revolution aus.
Außenministerin Annalena Baerbock
Bis zum Ende der Legislatur, sagt Schulze - die, wie Baerbock, Außen- und Entwicklungspolitik als sich ergänzend ansieht - sollen in ihrem Ressort mehr als neunzig Prozent des Förderetats an Projekte fließen, die Frauen als gleichberechtigt sehen und einbeziehen. Das Auswärtige Amt zielt auf 93 Prozent seiner Projektmittel, etwa fünf Milliarden Euro.
Vor dem Kanzleramt sagt Baerbock gleich als zweiten Satz: „Wir rufen ja heute keine Revolution aus.“ Und sie klingt dabei, als bedaure sie das.
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