Warum sich London nicht mehr um EU-Regeln schert
Warum sich London nicht mehr um EU-Regeln schert
Von Peter Stäuber (London)
Drei Jahre ist es her, dass Großbritannien die EU verlassen hat, Boris Johnson sprach damals von einem „Moment der nationalen Erneuerung“. Heute kämpft die britische Wirtschaft mit Brexit-bedingtem Personalmangel, Unternehmen klagen über zusätzliche Bürokratie, Investoren kehren Großbritannien den Rücken. Und immer mehr Briten kommen zur Überzeugung, dass der Brexit ein schwerer Fehler gewesen war.
Umso entschlossener klammert sich die britische Regierung an den Glauben, dass der Brexit am Ende doch noch zum Aufschwung führt – und sie lässt nichts unversucht, um die Bevölkerung vom Nutzen des EU-Austritts zu überzeugen. Hier kommt der Gesetzesvorstoß mit dem klobigen Namen „Beibehaltenes EU-Recht (Widerruf und Reform) Vorlage 2022“ ins Spiel.
Die Vorlage hat den Zweck, alle Gesetze und Regulierungen, die Großbritannien in seinen 40 Jahren als EU-Mitglied übernommen hat, zu überprüfen. Jene, die man beibehalten will, werden in britisches Recht übertragen – und der Rest über Bord geworfen. Erklärtes Ziel ist es, die „Brexit-Freiheiten“ zu nutzen und die „einzigartige Kultur der Innovation“ in Großbritannien zu fördern. Die Gesetze betreffen unzählige Bereiche, von den Rechten der Konsumenten über Insolvenzrecht bis zu Lohngleichheit und Umweltschutz.
Angst vor einem „schwarzen Loch“
Aber die Probleme beginnen schon damit, dass die Regierung gar nicht recht weiß, wie viele Gesetze es eigentlich sind. Anfangs war die Rede von 2.400, aber im November entdeckte das Nationalarchiv 1.400 zusätzliche EU-Gesetze, die geprüft werden müssen. Und zwar schnell: Die Regierung will, dass das gesamte Unterfangen bis Ende 2023 beendet ist – eine solche Auslaufklausel ist Teil der Vorlage. Alle Gesetze, die bis dann nicht in britisches Recht übertragen oder aktiv weggeschmissen werden, fallen automatisch weg.
Rechtsexperten, Oppositionspolitiker und Unternehmensverbände haben große Bedenken. Zum einen ist es eine Mammutaufgabe für die einzelnen Ministerien, ein Gesetz nach dem anderen eingehend zu studieren und zu entscheiden, was damit gemacht werden soll. So ist zu befürchten, dass unzählige Regulierungen am Ende des Jahres einfach wegfallen, ohne dass sie ersetzt werden. „Das scheint in rechtlicher Hinsicht fahrlässig“, sagt Joël Reland vom Thinktank UK in a Changing Europe. Die Stiftung British Safety Council, die sich unter anderem für Sicherheit und Gesundheitsschutz an Arbeitsplätzen und im Bausektor einsetzt, warnt, dass das Gesetz ein „schwarzes Loch“ hinterlassen könnte.
Es ist zu befürchten, dass unzählige Regulierungen am Ende des Jahres einfach wegfallen, ohne dass sie ersetzt werden.
Auch manche Unternehmer sind wenig begeistert. Die Regierung sagt zwar, dass Großbritannien dank des Widerrufs-Gesetzes „lästige EU-Regulierungen“ loswerden kann. Aber als der Branchenverband British Chambers of Commerce seine Mitglieder fragte, wie wichtig Deregulierung für ihr Unternehmen sei, meinte die Hälfte: Sie habe eine geringe Priorität, oder gar keine. Nur vier Prozent sagten, sie verstünden überhaupt, was das Gesetz genau bewirken würde.
Umgehung der Legislative
Auch gibt die Vorlage der Regierung weitreichende Befugnisse: Sie könnte jedes EU-Gesetz ersetzen durch eine Regelung, die sie für angemessen hält, sofern damit ein ähnliches Ziel erreicht werden soll. Dadurch werde die britische Legislative umgangen, und die Minister könnten im Prinzip tun, was sie wollen, warnt Ruth Fox vom Thinktank Hansard Society, der sich auf Rechtsfragen spezialisiert.
Dass das Widerrufs-Gesetz der britischen Öffentlichkeit den Glauben an den Brexit zurückgeben wird, ist denn auch nicht anzunehmen. Viel wahrscheinlicher ist es, dass auch dieser Vorstoß am Ende in der wachsenden Kategorie der Brexit-Misserfolge landen wird.
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