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Vom Krieg lassen sich die Kiewer nicht das Christfest nehmen
International 6 8 Min. 26.12.2022
Weihnachten in Kiew

Vom Krieg lassen sich die Kiewer nicht das Christfest nehmen

In der Metro sind am ersten Weihnachtstag Hunderte Einwohnerinnen und Einwohner von Kiew zusammengekommen, um Weihnachtslieder zu singen.
Weihnachten in Kiew

Vom Krieg lassen sich die Kiewer nicht das Christfest nehmen

In der Metro sind am ersten Weihnachtstag Hunderte Einwohnerinnen und Einwohner von Kiew zusammengekommen, um Weihnachtslieder zu singen.
Foto: Michael Merten
International 6 8 Min. 26.12.2022
Weihnachten in Kiew

Vom Krieg lassen sich die Kiewer nicht das Christfest nehmen

Michael MERTEN
Michael MERTEN
Den ersten Weihnachtstag hat LW-Reporter Michael Merten in Kiew verbracht, wo die Menschen den Kriegsumständen trotzen.

Etwas unsanft reißt mich das Telefon in meinem Kiewer Hotelzimmer um 7.30 Uhr aus dem Schlaf. Nach Tagen und Nächten, die ich mit dem Hilfskonvoi von LUkraine auf der Straße verbracht habe, bin ich noch etwas schlaftrunken. Doch noch während ich aus dem Bett torkele und zum Telefon gehe, schießt mir ein Gedanke durch den Kopf: Das ist bestimmt die Rezeption, die mich warnen will, dass Luftalarm herrscht! Verdammt, denke ich mir: Du steckst ja noch in den Schlafklamotten und musst gleich raus … Doch als ich den Hörer abnehme, fragt mich eine freundliche Stimme, ob ich auch Omelette zum Frühstück nehmen würde? Die Pancakes, die ich angekreuzt habe, seien nicht machbar.

Klar, denke ich mir, wenn es nur das ist … Also dusche ich und trippele ein Stockwerk tiefer in den menschenleeren Frühstücksraum. Die mit weißen Tüchern zugedeckten Buffet-Schalen sind stumme Zeugen besserer Zeiten. Irgendwann kommt ein zweiter Gast hinzu; schließlich auch eine Küchenkraft mit den Frühstücken.


Wie Teddys von den USA über Luxemburg in die Ukraine kamen
Ein erstaunlicher Zufall führte dazu, dass ein Luxemburger nicht nur Ambulanzen und Feuerwehrautos in die Ukraine brachte, sondern auch Teddys.

Ich stärke mich und gehe zurück in mein Hotelzimmer, denn ich will meinen Text über Mohamed Sameh schreiben, einen Freiwilligen des Hilfskonvois, der durch Zufall einen Koffer mit Teddys von den USA nach Lviv brachte. Am Heiligen Abend sind die Luxemburger nach Hause zurückgekehrt; ich bin mit dem Zug nach Kiew weitergereist, wo ich noch einige Interviews führen will. Als während der siebenstündigen Fahrt über die weiten Ebenen der Ukraine die Dunkelheit eingesetzt hat, konnte man bei jedem Dorf, an dem wir gemächlich vorbeizogen, erkennen, wie sparsam die Menschen mit Licht umgehen.

Glücklich, wer einen Generator hat

Mein Businesshotel in der Nähe des zentralen Maidan-Platzes verfügt über einen Generator, man hat dort permanent Strom und Internet. Auch viele Privathäuser leisten sich ein solches Gerät, was jedoch ohrenbetäubenden Lärm auf den Straßen zur Folge hat. Die Mehrheitsbevölkerung muss sich hingegen an einem Stundenplan orientieren: Nur zu bestimmten Zeiten gibt es Strom und Licht.

Während ich an meinem Laptop sitze, passiert es dann doch: Um 9.32 Uhr warnen die Kiewer Sirenen sowie eine App vor Luftalarm. Hoch konzentriert reagiere ich schnell: Ich verstaue den Laptop und einige herumliegende Wertsachen schnell in meinem Rucksack, ziehe mir die Jacke über und renne aus dem Zimmer. Doch dummerweise laufe ich auf dem Flur in die falsche Richtung und lande nicht bei der Treppe zur Lobby, sondern in einem Flügel, wo es zwar auch eine Treppe gibt, die jedoch schlecht und zudem nur auf kyrillisch beschriftet ist. Schließlich lande ich in einer Rumpelkammer, wo mir ein Mitarbeiter begegnet, der sich sichtlich über den aufgeregten Kunden wundert. 

Während eines Luftalarms stehen Menschen an der Metrostation Maidan Nezalezhnosti für einen Kaffee an.
Während eines Luftalarms stehen Menschen an der Metrostation Maidan Nezalezhnosti für einen Kaffee an.
Foto: Michael Merten

Ich stammle etwas von Exit; er sagt irgendwas, zeigt in eine Richtung, ich laufe weiter, lande schließlich auf dem zugestellten Hinterhof und eile zur naheliegenden Metrostation. Doch schon auf dem Weg hierhin wundere ich mich, dass ich offensichtlich der einzige Mensch in Eile bin. Nach einigen Gesprächen lerne ich, dass Luftalarm nicht gleich Luftalarm ist. Die Einheimischen können das konkrete Gefahrenpotenzial gut einschätzen; noch sind keine Luftschläge zu befürchten.

Sieben Tote in Cherson

Wie sich später herausstellen wird, hat es den ganzen Tag über keine Treffer auf dem Gebiet der Hauptstadt gegeben. Doch am Heiligen Abend wurde mitgeteilt, dass bei russischem Beschuss von Cherson sieben Menschen getötet und 58 weitere verletzt worden sind.


Luxemburger Helfer nach Parforceritt in Ukraine angekommen
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In der Hotellobby schreibe ich meinen Text fertig. Der extrem gut vernetzte Mohamed hat mir jedoch nicht nur die Geschichte der Teddys erzählt. Er hat mich auch mit Iryna Bilan vernetzt, der 32-jährigen Managerin einer Kunstgalerie, wo gerade eine Ausstellung über Russlands machtstrategischen Einsatz von Öl und Gas läuft.

Diese Schau würde ich gerne sehen, also mache ich mich um 13 Uhr zu Fuß auf. Etwa drei Kilometer Fußweg sind es; eigentlich ein schöner Spaziergang. Doch ich habe die Rechnung ohne die Kriegsumstände gemacht: Nach einiger Zeit stoße ich auf eine Straßensperre. Ein freundlicher junger Soldat erklärt mir, dass ich leider wieder zurückgehen müsse. 

Elena Khalabuzar (rechts) und ihre Freundinnen trotzen dem Krieg, indem sie Popvideos nachtanzen.
Elena Khalabuzar (rechts) und ihre Freundinnen trotzen dem Krieg, indem sie Popvideos nachtanzen.
Foto: Michael Merten

Als ich mir gerade überlege, ob ich nun besser mit einem Taxi, dem Bus oder der Metro zu der Galerie gelangen kann, nehmen mir die äußeren Umstände die Entscheidung ab: Um 14.29 Uhr ertönen die Sirenen erneut und ich halte es für besser, erst einmal in der Nähe der Metrostation am Maidan zu bleiben.

Frieren für ein Tanzvideo

Während ich dem langgezogenen und schrillen Sirenenton lausche, versammelt sich auf dem Vorplatz eine Gruppe junger Menschen, die ihre Jacken abwerfen, wodurch ihre schwarz dominierten Outfits sichtbar werden. Während sie sich für eine Choreografie positionieren, frage ich eine Teilnehmerin, was sie da machen. Elena Khalabuzar, eine 20-jährige Jurastudentin, erklärt mir, dass sie hier für YouTube ein Covervideo aufnehmen: Die Gruppe tanzt ein koreanisches Pop-Video nach.

Wir leben unser Leben jeden Tag, wir lieben unser Leben mehr und mehr. 

Elena Khalabuzar

Sie hätten nicht viel Zeit, um sich hier zu treffen, erklärt mir die junge Frau: „Wir tanzen oft unter Sirenen, das ist unser Alltag, auch wenn das nicht gut ist.“ Erst Covid, jetzt Studium per Online-Unterricht - das seien harte Zeiten, man müsse sich durchwurschteln, doch der Krieg habe die Menschen freundlicher und stärker gemacht. „Wir leben unser Leben jeden Tag, wir lieben unser Leben mehr und mehr, und wir machen mit dem Tanzen weiter.“ 

Auf Instagram hat „Elinka“, wie sie sich dort nennt, einen Spruch geteilt: „All I want for Christmas is you“, wird darin eine bekannte Liedzeile geteilt. Doch das „you“ ist durchgestrichen, stattdessen heißt es: Alles, was ich will, ist, mit meiner Familie zusammen zu sein.

Singen unter der Erde

Um 16.21 Uhr wird der Luftalarm offiziell aufgehoben. Die Ausstellung schließt bald, doch Iryna schlägt mir vor, dass wir uns in der Metrostation Zoloti Vorota mit ihrem Bekannten Victor Perfetsky treffen. Im Kriegsweihnachten 2022 haben die Kiewer eine uralte Tradition tief unter die Erde verlegt, hinein in die Metro, die früher nur ein Ort der flüchtigen Begegnung war, durch die verheerenden Raketenangriffe aber ein Ort des Schutzes und der Geborgenheit geworden ist.

Pschhhhh zischt es vom Bahnsteig aus, dann braust die blaue U-Bahn mit den gelben Streifen unter großem Lärm davon. Passanten steigen aus, andere ein, doch Hunderte Menschen bleiben unter dem altehrwürdigen Gewölbe im Mittelteil der Metrostation stehen, das so reichhaltig mit Ornamenten verziert ist. Im Zentrum steht eine Gruppe Frauen, die bunte Trachten aus den zahlreichen Regionen der Ukraine tragen; jede Gegend hat ihre eigenen Farben und Muster. Zusammen mit den Sternen und Strohkreuzen, die auf Stöcken in die Luft gehalten werden, ist es ein einziges Farbenmeer.

Ein älterer Mann mit dichtem weißem Bart ist ein gefragtes Fotoobjekt: Der Nikolaus in rotem Gewand und blau-gelber Mitra muss für unzählige Selfies posieren. Mehr als eine Stunde lang singen die Menschen ihren reichhaltigen Schatz an Weihnachtsliedern. Auch Victor und Iryna stimmen inbrünstig mit ein.

Als eine Frau das Schlusslied einstimmt, legt vom jungen Soldaten bis zur alten Frau fast jeder die rechte Hand auf die Brust. Aus allen Kehlen erklingt laut die Nationalhymne mit dem Titel „Noch ist die Ukraine nicht gestorben“. „Ruhm und Wille der Ukraine sind noch nicht tot, das Schicksal wird uns zulächeln“, heißt es beschwörend in dem 150 Jahre alten Lied, dem Spiegelbild eines Landes, das so oft zum Spielball fremder Großmächte geworden ist.

Es fließen viele Tränen

„Wir werden niemandem erlauben, in unserem Heimatland zu herrschen“, singen die Menschen, und ihre Inbrunst lässt keinen Zweifel aufkommen, dass sie das auch so meinen. Mit dem Ausruf „Slawa Ukrajini!“ (Ruhm der Ukraine!) beendet die Vorsängerin die Veranstaltung. Laut schallt ihr die Antwort „Herojam slawa“ („Ruhm den Helden“) entgegen. Es ist ein emotionaler Moment, in dem viele Tränen fließen.

Die Menschen tragen viel mit sich herum. „Jeder hat einen Freund oder Verwandten, der an der Front ist“, sagt Iryna, als wir uns wieder gesammelt haben. Und sie erzählt, dass eine ältere Kollegin von ihr, so wie sie das jedes Jahr macht, eine Weihnachtsfeier für das Team organisiert habe. Selbst habe sie aber nicht die Kraft dafür gehabt, daran teilzunehmen. Ihr Cousin wird in Mariupol vermisst und ist wohl gefallen. „Aber obwohl sie diesen Kummer in ihrem Herzen hat, kümmert sie sich immer noch um uns.“

Victor Perfetsky (rechts) probt mit Kommilitonen für eine musikalische Reise ins zurückeroberte Charkiw.
Victor Perfetsky (rechts) probt mit Kommilitonen für eine musikalische Reise ins zurückeroberte Charkiw.
Foto: Michael Merten

Der Krieg habe in den Leuten eigentlich nicht so viel verändert, findet Iryna; es sei eher vieles aufgedeckt worden. „Viele Menschen haben die Bereitschaft gezeigt, sich aufzuopfern, das kommt aus unseren Herzen und ist schwer zu erklären“, sagt sie. Das Leid mache jedenfalls stark.  

Viele Menschen haben die Bereitschaft gezeigt, sich aufzuopfern.  

Irina Bilan, Galerie-Managerin

Victor lädt uns noch zu sich nach Hause ein. Ein halbes Dutzend Kommilitonen versammelt sich bei dem jungen Mann, um Weihnachtslieder einzustudieren; die Gruppe will im Januar ins zurückeroberte Charkiw reisen und den Menschen dort Mut machen. Das Treffen der Studenten ist nicht allzu weihnachtlich; dafür fehlt schlicht die Zeit, denn sie müssen die Lieder proben, bevor die Metro abends stillsteht und die Sperrstunde um 23 Uhr naht.

So gehen unsere Wege um 21 Uhr auseinander; ich spaziere durch die leeren Boulevards einer Metropole, in der die Dunkelheit zwar das Stadtbild, aber nicht die Menschen dominiert. Nie habe ich ein Weihnachten wie hier, im ukrainischen Kriegswinter, erlebt. Und doch wird es mir als Fest der Hoffnung in Erinnerung bleiben.

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