Warum die Diplomatie weit vor 2022 zum Erliegen kam
Warum die Diplomatie weit vor 2022 zum Erliegen kam
Von Stefan Scholl (Moskau)
Eine wenig originelle Weisheit Wladimir Putins lautet: „Wenn die Prügelei unvermeidbar ist, musst du als Erster zuschlagen.“ Den Satz münzte er 2015 auf Russlands Syrien-Intervention. Aber jetzt streiten die Experten, ab welchem Zeitpunkt der Kremlchef auch seinen Feldzug in der Ukraine für unvermeidbar hielt. Ab wann war keine Verhandlungslösung mehr möglich? Und hat die Diplomatie Chancen verpasst?
Das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen gilt schon seit Putins Wutrede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 als verkorkst, als er den USA vorwarf, die Welt allein dominieren zu wollen. Aber auf dem Kriegspfad war er noch nicht, ein Jahr später trat er gemäß der Verfassung zurück und überließ seinen Gefolgsmann Dmitri Medwedew für eine Amtsperiode die Präsidentschaft, ein klares Signal, dass er nach wie vor bereit war, rechtsstaatliche Spielregeln einzuhalten.
Aber fast schien es, als missbrauchten die USA Putins vierjährige außenpolitische Abstinenz, um ihre „liberale Hegemonie“, wie der amerikanische Politikwissenschaftler Steven Walt sie nannte, auszubauen: Mit dem Beschluss der NATO 2008, die früheren Sowjetrepubliken Georgien und Ukraine zu Beitrittskandidaten zu erklären.
Russland-nahe Autokraten arg in Not
Oder mit der westlichen Unterstützung für den Arabischen Frühling ab 2010, der auch traditionell Russland-nahe Autokraten arg in Not brachte. Aus heutiger Sicht hat man damit weder der Ukraine noch Georgien oder Arabien wirklich geholfen. Aber dass libysche Rebellen 2011 mit Feuerschutz der NATO-Luftwaffe Muammar al-Gaddafi totschlugen, nahm Putin sehr persönlich.
Es folgten die gescheiterten Moskauer Massenproteste im Winter 2011 und 2012, die sich auch gegen Putins Rückkehr als Präsident richteten. Und 2013/2014 die proeuropäische Kiewer Maidan-Revolution. Im Kreml beschimpfte man die EU und die USA als Drahtzieher beider Bewegungen. Diesmal zu Unrecht, aber Putin konterte den Maidan prompt, annektierte die Krim und organisierte im Donbass eine prorussische Rebellion.
Seit 2014 sah Russland sich endgültig im hybriden Krieg mit dem Westen.
Seit 2014 sah Russland sich endgültig im hybriden Krieg mit dem Westen. Nicht zuletzt aufgrund westlicher Unklugheiten. Auch amerikanische Experten konstatieren, dass die USA das postsowjetische Russland jahrzehntelang weder richtig wahr- noch ernst genommen hat. Aber das Gefühl Putins und seiner Umgebung, existenziell bedroht zu sein, nährte sich auch aus eigenen postsowjetischen Komplexen. Zu Putins Lieblingsgeschichten gehört seit seinem Amtsantritt die riesige, in die Enge getriebene Ratte, die zum Angriff übergeht. Vielleicht hätte es eher Psychotherapeuten als Diplomaten gebraucht.
Kurzer Prozess mit der letzten Opposition
Noch gab es gemeinsame Projekte, so den 2018 gestarteten Bau der russisch-deutschen Nord Stream 2-Gasleitung. Aber wie die sich häufenden Netzkampagnen oder Hackerangriffe gegen führende demokratische Parteien bei US- oder EU-Wahlen stellte Nord Stream 2 statt Partnerschaft eher offensive Geopolitik dar: Um die Ukraine als Transitland für Gas auszuschalten, auch um die Eliten in Berlin, Wien oder Rom zu „verschrödern“, also zu korrumpieren. Und man machte auch kurzen Prozess mit der letzten russischen Straßenopposition und ihrem Führer Alexej Nawalny, minimalisierte so die innenpolitischen Risiken eines Krieges.
Vielleicht hätte es eher Psychotherapeuten als Diplomaten gebraucht.
Der Moskauer Politologe Boris Meschujew glaubt, das große Blutvergießen sei noch 2021 zu verhindern gewesen: Wenn sich der Westen und Russland schon nicht auf eine Ukraine als neutrale Pufferzone zwischen ihren Zivilisationen einigen konnten, hätte man sie aufteilen sollen: „Ein Teil, die Krim und das Donbass zieht es nach Russland, ein Teil, zugegebenermaßen der Größere, will nach Europa.“ Russland und der Westen hätten mit kühlem Kopf auf die Idee der territorialen Unversehrtheit der Ukraine verzichten müssen …
Nur hat Moskau diesen Vorschlag nie gemacht, forderte dafür im Dezember 2021 ultimativ den Rückzug aller NATO-Truppen hinter die Oder-Neiße-Linie und der US-Atomstreitkräfte aus ganz Europa. „Unerfüllbare Forderungen“, kommentierte damals auch Sergei Lukjanow, kremlnaher Experte für internationale Politik. Jetzt, das war klar, wollte Putin Krieg.
Folgen Sie uns auf Facebook, Twitter und Instagram und abonnieren Sie unseren Newsletter.
Als Abonnent wissen Sie mehr
In der heutigen schnelllebigen Zeit besteht ein großer Bedarf an zuverlässigen Informationen. Fakten, keine Gerüchte, zugänglich und klar formuliert. Unsere Journalisten halten Sie über die neuesten Nachrichten auf dem Laufenden, stellen politischen Entscheidern kritische Fragen und liefern Ihnen relevante Hintergrundgeschichten.
Als Abonnent haben Sie vollen Zugriff auf alle unsere Artikel, Analysen und Videos. Wählen Sie jetzt das Angebot, das zu Ihnen passt.
