„Vater Staat“ hat nach dem Erdbeben versagt
„Vater Staat“ hat nach dem Erdbeben versagt
Von Gerd Höhler
Bis zum Freitagmittag hatten die Helfer in der Südosttürkei und im angrenzenden Syrien nach offiziellen Angaben über 23.000 Leichen geborgen. Aber bisher haben die Einsatzkräfte längst nicht alle eingestürzten Gebäude durchsucht. Der griechische Geologieprofessor und Katastrophenexperte Efthymios Lekkas, der schon wenige Stunden nach dem Beben in der Region eintraf, schätzt die Zahl der Todesopfer auf 50.000.
Erdogan in Erklärungsnot
Staatschef Recep Tayyip Erdogan räumte bei einem Besuch im Katastrophengebiet „anfängliche Schwierigkeiten“ bei den Rettungsarbeiten ein. Inzwischen sei aber „alles unter Kontrolle“, so Erdogan. Das ist auch der Eindruck, den die zu 90 Prozent regierungsnahen Medien vermitteln. Als eine Überlebende in der Stadt Kahramanmaras vor einer Kamera des Staatsfernsehens TRT über ausbleibende Hilfe zu klagen begann, wandte sich die Reporterin abrupt ab.
Erdogan versuchte bei seinem Besuch, dem direkten Kontakt mit den Menschen aus dem Weg zu gehen. Wenn er unvermeidlich wurde, suchte der Präsident nach Ausflüchten. Katastrophen passierten nun mal, das sei „der Plan der Vorsehung“, erklärte Erdogan einer Frau. Die gleichen Worte hatte er vor einigen Monaten bei einem Grubenunglück mit 41 Toten gebraucht. Damals gab es Kritik an schlampigen Sicherheitsvorkehrungen. Diesmal geht es um Pfusch am Bau.
Erdogan kommt in Erklärungsnot. Seit zwei Jahrzehnten kultivierte er das Image des fürsorgenden Landesvaters. Sein zunehmend autokratisches Gebaren sahen ihm viele Türkinnen und Türken nach. Erdogan verkörperte den „starken Führer“, nach dem sich viele in einer autoritäts- und staatsgläubigen Gesellschaft sehnen. Aber nun versagt „Vater Staat“. Das beginnt für Erdogan zu einem politischen Problem zu werden. Mitte Mai sollen Parlaments- und Präsidentenwahlen stattfinden. Schon vor dem Beben schwächelte Erdogan in den Umfragen. Welche Folgen die Katastrophe für die Wahl hat und ob der Urnengang überhaupt stattfindet, ist noch gar nicht abzusehen.
Was die Türkei jetzt erlebt, erscheint wie eine bittere Ironie der Geschichte.
Kritik im Keim ersticken
Was die Türkei jetzt erlebt, erscheint wie eine bittere Ironie der Geschichte: Das krasse Staatsversagen nach dem schweren Erdbeben in der Nordwesttürkei vom August 1999 fegte die damalige Regierung des greisen Premiers Bülent Ecevit aus dem Amt. Bei den Wahlen von 2001 schaffte keine der an der Regierungskoalition beteiligten Parteien die Rückkehr ins Parlament. Die Katastrophe bescherte Erdogan und seiner islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) die absolute Mehrheit im neuen Parlament. Jetzt kündigt sich ein neues politisches Beben in der Türkei an. Es könnte Erdogans Ende bedeuten.
Deshalb versucht er, jede Kritik im Keim zu ersticken. Der Staatssicherheitsdienst EGM meldete 31 Festnahmen wegen „provozierender Posts“ zur Erdbebenkatastrophe. Um die Kritiker zum Schweigen zu bringen, drosselte die Regierung am Dienstag den Zugang zu Twitter. Damit verloren die Retter und die Überlebenden, die sich über den Kurznachrichtendienst abstimmten, einen lebenswichtigen Kommunikationskanal. Doch das schien Erdogan nicht zu kümmern.
Das Doppelbeben vom vergangenen Montagmorgen kam nicht unerwartet. Die ostanatolische Verwerfung ist eine der gefährlichsten Bruchzonen des Landes. Das bewog Dilsat Canbaz Kaya, eine Abgeordnete der pro-kurdischen Partei HDP, im Februar 2020 zu drei parlamentarischen Anfragen. Sie wollte von Innenminister Süleyman Soylu wissen, wie es um die Einhaltung der Bauvorschriften in den Provinzen Gaziantep, Hatay und Kahramanmaras stehe, ob es erdbebengefährdete Gebäude gebe und welche Notfallpläne das Ministerium entwickelt habe. Soylu ließ die Anfragen der Abgeordneten drei Jahre lang unbearbeitet. „Wir wissen jetzt, warum“, sagte Kaya diese Woche. Inzwischen hat sich eine Antwort des Ministers erübrigt. Das Erdbeben hat sie gegeben.
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