„Die Ukrainer sind Meister der Improvisation“
„Die Ukrainer sind Meister der Improvisation“
Vor einem Jahr hat Russland seine großangelegte Invasion der Ukraine gestartet. Seitdem war Stefan Schocher dreimal auf Recherchereisen in dem angegriffenen Land unterwegs. Der in Wien lebende Osteuropa-Korrespondent des „Luxemburger Wort“ spricht im Podcast „Wortwechsel“ mit LW-Journalist Michael Merten über seine Erlebnisse vor Ort, etwa in der Hauptstadt Kiew, aber auch in Frontstädten wie Mykolajiw und Cherson.
Was ihn auf seinen Reisen am meisten beeindruckt habe: „Es gibt eine unglaubliche Solidaritätswelle in der Bevölkerung.“ Unter den Menschen herrsche ein übergreifender Konsens, dass man sich nicht dem Aggressor unterwirft - „ob jetzt jemand sich als ukrainischsprachiger Ukrainer, als russischsprachiger Ukrainer, als Tatare, als Jude oder weiß Gott was empfindet“: Das sei „ein sehr vereinendes Gefühl.“
Schocher berichtet seit der Orangenen Revolution von 2004 über die Ukraine, als der prowestliche Präsident Viktor Juschtschenko gewählt wurde. Der Krieg mit Russland sei erst im vergangenen Jahr vollends in das europäische Bewusstsein vorgedrungen, doch dieser habe nicht erst mit der großangelegten Invasion vom 24. Februar 2022 begonnen, sondern mit der russischen Einverleibung der Krim im März 2014. „Es sterben seit 2014 Menschen, und zwar täglich“, betont Schocher.
Berichterstattung ohne Restriktionen
Als Journalist habe er sich in dem Land trotz des Kriegs frei bewegen können. Mit einer ukrainischen Bekannten sei er in deren Auto bis an die Front in Mykolajiw gefahren: „Da gab's eigentlich keine Beschränkungen.“ Man müsse immer vor Ort abwägen, unter welchen Bedingungen man agieren könne. Die meisten Gesprächspartner hätten sich darüber gefreut, dass ein ausländischer Journalist sich für sie interessiere. Auch seien viele Ukrainer dankbar für die Lieferungen von Waffen, Munition, Generatoren und Ersatzteile: „Ich glaube, das ist ein ganz wichtiges moralisches Signal, dass man dieses Land nicht vergessen hat.“
Ich glaube, das ist ein ganz wichtiges moralisches Signal, dass man dieses Land nicht vergessen hat.
Osteuropa-Korrespondent Stefan Schocher
Seit den Unabhängigkeitsbewegungen nach dem Ersten Weltkrieg habe es in der Ukraine kein einziges ruhiges Jahrzehnt gegeben. „Das war immer ein Auf und Ab, eine Berg- und Talfahrt.“ Diese Tatsache erkläre, warum die Menschen auch jetzt, unter den schwierigen Bedingungen des Kriegs, in der Lage seien, ihren Alltag halbwegs aufrechtzuerhalten. „Die Ukrainer sind Meister der Improvisation“, erklärt Schocher.
Erstaunen über funktionierenden Staat
Jahrzehntelang seien Staat und Verwaltung als latent dysfunktional wahrgenommen worden. Doch das habe sich geändert, da nun in kürzester Zeit zerbombte Straßen, Brücken, Stromleitungen, Wasserleitungen und andere Infrastruktur repariert würden: „Viele Ukrainer sind erstaunt, wozu ihr Staat eigentlich fähig ist.“ Doch schon seit den Euro-Maidan-Protesten von 2013 und 2014 habe die Ukraine enorm viele Fortschritte im Kampf gegen die Korruption gemacht: „Da sind unfassbare Entwicklungen vor sich gegangen.“
Überrascht habe ihn auch die Wandlung von Präsident Wolodymyr Selenskyj, der seit 2019 im Amt ist und das Ziehkind eines Oligarchen gewesen sei. Gegen große Widerstände habe er zunächst versucht, einen Ausgleich mit Russland zu finden: „Es gab viel Kritik an ihm vorab, dass er diese Bedrohung nicht ernst genommen hätte.“ Doch durch den Krieg habe er an Format gewonnen und sich seinen Platz in der Geschichte erworben: „In der Situation jetzt ist der Mann einfach die Idealbesetzung.“
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