Taliban erobern dritte Provinzhauptstadt innerhalb eines Tages
Taliban erobern dritte Provinzhauptstadt innerhalb eines Tages
(dpa) - Die drittgrößte Stadt Afghanistans ist an die militant-islamistischen Taliban gefallen. Die wichtigsten Regierungseinrichtungen von Herat im Westen des Landes seien in den Händen der Islamisten, bestätigten drei lokale Behördenvertreter der Deutschen Presse-Agentur am Donnerstag. Erst am Donnerstagmorgen (Ortszeit) war die strategische Stadt Gasni im Südosten gefallen. Auch die zweitgrößte Stadt Kandahar ist schwer umkämpft.
Auch die Hauptstadt Kala-e Nau der Provinz Badghis im Nordwesten des Landes sei von den Islamisten übernommen worden, bestätigten ein Provinzrat und eine Parlamentarierin der Deutschen Presse-Agentur am Donnerstagabend. Die wichtigsten Regierungseinrichtungen der Stadt mit rund 80.000 Einwohnern seien nun in der Hand der Islamisten, sagten die Provinzräte. Die Sicherheitskräfte hätten sich in eine Militärbasis zurückgezogen. Sie seien umzingelt, und würden sich wohl früher oder später ergeben müssen, mutmaßten die Offiziellen. Damit fielen drei Provinzhauptstädte am Donnerstag an die Taliban - Kala-e Nau ist die zwölfte innerhalb weniger als einer Woche.
Lange Gefechte um die Stadt Herat
Dem Fall der historischen Stadt Herat mit geschätzt 600.000 Einwohnern waren wochenlange Angriffe auf die Stadt vorausgegangen. Die Taliban konnten zunächst von den Sicherheitskräften und Milizen des dort heimischen Politikers und ehemaligen Kriegsfürsten Ismail Chan in Schach gehalten und teils auch wieder zurückgedrängt werden.
Provinzräte berichteten seit Donnerstagnachmittag (Ortszeit) von zunehmenden Gefechten in Herat. Die Taliban seien aus dem Osten in die Stadt vorgedrungen und bis zu 200 Meter an den Gouverneurssitz gelangt. Die Milizen von Ismail Chan seien im Westen der Stadt damit beschäftigt gewesen, einen Angriff der Islamisten abzuwehren. Auch vom Norden seien sie vorgerückt, sagte ein weiterer Provinzrat.
Am Donnerstagabend (Ortszeit) seien schließlich der Gouverneurspalast, das Polizeihauptquartier und das Gefängnis unter Kontrolle der Taliban gewesen. Die Islamisten hätten, wie schon in anderen von ihnen eroberten Städten, die Gefangenen freigelassen. Die Sicherheitskräfte hätten nicht gekämpft, erklärte der Provinzrat Ghulam Habib Haschimi.
Nur die kürzlich von Ismail Chan zusammengesammelten Kräfte des Volksaufstandes hätten sich gegen die Übernahme der Stadt gewehrt, sagte Haschimi weiter. Der Gouverneur und andere Offizielle hätten sich in eine Militärbasis in der Nähe des Flughafens zurückgezogen. Es war unmittelbar nicht klar, wo sich Ismail Chan befand, der als einer der Führer der Nordallianz 2001 den USA geholfen hatte, die Taliban zu vertreiben.
In den vergangenen Wochen waren die Taliban laut lokalen Behördenvertretern immer wieder für Kurzangriffe in die Stadt eingedrungen und hätten sich dann sofort wieder zurückgezogen. Damit und mit in sozialen Medien verbreiteten Selfies von sich in der Stadt, hätten sie Schrecken unter den Bürgern verbreitet, sagte der Sprecher des Gouverneurs der Provinz von Herat.
Erst am Donnerstagvormittag (Ortszeit) war die strategische Stadt Gasni im Südosten des Landes an die Taliban gefallen. Am Donnerstagabend (Ortszeit) gab es zudem Berichte, die zweitgrößte Stadt des Landes, Kandahar, könnte von den Islamisten erobert worden sein. Die Telefonverbindungen in die Provinz funktionierten nicht. Zwölf der 34 Provinzhauptstädte sind nun in den Händen der Islamisten. Der überwiegende Teil davon liegt im Norden des Landes. Gasni liegt von all den gefallenen Städten Kabul am nächsten.
Seit dem Beginn des US- und Nato-Truppenabzugs der USA Anfang Mai haben die Taliban massive Gebietsgewinne verzeichnet. Die Islamisten hatten von 1996 bis zur US-geführten Intervention 2001 weite Teile Afghanistans unter ihrer Kontrolle. Inzwischen ist der Abzug zu mehr als 95 Prozent abgeschlossen. Auch die deutsche Bundeswehr und die Soldaten anderer Nato-Länder haben Afghanistan bereits verlassen.
USA verstärken Truppenpräsenz am Flughafen Kabul
Die USA werden nach Angaben des Außenministeriums zusätzliche Soldaten an den Flughafen Kabul verlegen, um den geordneten Abzug von Teilen des Botschaftspersonals zu unterstützen. Die sei mit den afghanischen Behörden abgesprochen, sagte der Sprecher des Außenministeriums, Ned Price, am Donnerstag. Die Botschaft in Kabul bleibe weiterhin geöffnet, betonte er. Price machte zunächst keine Angaben zum Ausmaß der zeitweiligen Verstärkung der US-Militärpräsenz in Kabul.
Mit Blick auf den zuletzt raschen Vormarsch der militant-islamistischen Taliban sagte Price, es handle sich bei der Reduzierung des zivilen Personals der Botschaft Kabul um eine Vorsichtsmaßnahme. Es sei eine Fortsetzung der bereits geplanten Reduzierung der Personalstärke in Kabul, sagte er weiter.
Das US-Militär will Afghanistan bis Ende August verlassen. Zurückbleiben sollen dem Vernehmen nach nur einige Hundert Soldaten - vor allem um die US-Botschaft zu schützen. US-Präsident Joe Biden verteidigte am Dienstag den Abzug des US-Militärs. Die Afghanen müssten nun „selbst kämpfen, um ihren Staat kämpfen“, sagte er unter anderem im Weißen Haus in Washington.
Angesichts dieses rasanten Eroberungszuges rechnen US-Geheimdienste einem Medienbericht zufolge damit, dass die Hauptstadt Kabul in 30 bis 90 Tagen in die Hände der Islamisten fallen könnte, berichtete die „Washington Post“ diese Woche unter Berufung auf nicht genannte Quellen in den US-Geheimdiensten.
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