Nicht auf die Stimme des Imams warten
Nicht auf die Stimme des Imams warten
Von Michael Wrase (Limassol)
Ali Ahmad Mulla war 14, als er als einer von vier Lehrlingen in die Masjid Al-Haram, die „Grosse Moschee“, von Mekka, aufgenommen wurde, um als Muezzin ausgebildet zu werden. 43 Jahre später erkennen ihn die meisten saudischen Gläubigen an seiner melodischen Stimme, mit der der ehrwürdige Imam fünfmal am Tag zum Gebet ruft. Mehr als 60 kabellose Lautsprecher übertragen den „Azan“ in dem riesigen Gotteshaus.
Revolution im konservativen Saudi-Arabien
Um dem Gebetsruf das volle Volumen zu verleihen, werden die Regler am Mischpult dann ganz nach oben geschoben. Doch das soll sich jetzt ändern. Der Muezzin muss leiser werden, verfügte der saudische Minister für islamische Angelegenheiten, Abdullatif al-Scheich, in der vergangenen Woche. Deshalb dürften die Lautsprecher in allen Moscheen des Landes nur noch auf ein Drittel ihrer maximalen Lautstärke aufgedreht werden – und zwar nur für die Dauer des „Azan“ und nicht mehr für das anschließende Rezitieren von langen Gebeten.
Für das extrem konservative Saudi-Arabien, den Geburtsort des Islam, bedeuten die Einschränkungen eine kleine Revolution. Die Begründung des Religionsministers klingt allerdings plausibel. Kinder, Kranke und Alte, argumentierte al-Scheich, würden unter der extremen Beschallung, die besonders in den frühen Morgenstunden oft zur Qual wird, extrem leiden. Zudem störten die unterschiedlichen Koranrezitationen aus den verschiedenen Moscheen, die nicht selten nur wenige Hundert Meter voneinander entfernt liegen, die Gläubigen bei ihrem Zwiegespräch mit dem Allmächtigen.
Diejenigen, die wirklich beten wollten, bräuchten nicht auf die Stimme des Imams zu warten. Sie sollten schon vorher in der Moschee sein, sagte der Minister im Fernsehsender al-Ichbarija. Al-Scheich gilt als ein enger Vertrauter von Mohammed bin Salman. Der saudische Kronprinz will sein Land „zu einem modernen Islam zurückführen“. Es gelang ihm, die verhasste Religionspolizei, die u.a. für die strikte Einhaltung der Gebetszeiten verantwortlich war, zu entmachten.
Völlig mundtot konnten die fundamentalistischen Hardliner freilich nicht gemacht werden. Das zeigt auch die zum Teil geharnischte Kritik an der Anordnung des Religionsministers, die Gebetslautsprecher zu dämpfen. „Das ist Verrat am Islam“, empörte sich User aus Riad auf Twitter. Die Gängelung der Muezzine sei ein „weiterer Schritt zu mehr Korruption, Sittenverfall und Verwestlichung“, empörte sich die regierungskritische Website Saudileaks.org.
Religionsminister muss teilweise nachgeben
Es sei unlogisch und widersinnig, wenn man laute Musikberieslung in Cafés und Restaurants gestatte und gleichzeitig die Gebetslautsprecher auf ein Drittel ihres maximalen Volumens beschränke. Al-Scheich bezeichnete die Kritiker seiner Maßnahmen pauschal als „Unruhestifter und Feindes des Königreiches“, die den nationalen Zusammenhalt zerstören wollten.
Trotzdem hielt es der Minister offenbar für notwendig, seinen „Dämpfungserlass“ etwas zu lockern. So soll es den Muezzinen des Königreiches zumindest an Freitagen und Feiertagen möglich sein, in voller Lautstärke zum Gebet zu rufen.
Das Volumen des Gebetsrufes ist auch in anderen arabischen Staaten sowie im multikonfessionellen Israel ein Dauerthema. Um Klangverzerrungen und Lärm zu reduzieren, die durch die gleichzeitige Nutzung mehrerer Gebetslautsprecher entstehen, bemüht man sich etwa in Ägypten seit Jahren um eine Vereinheitlichung des Azan. Der Ruf sollte per Radio übertragen und dann von den rund 5.000 Kairoer Moscheen ausgestrahlt werden.
Ähnliche Problematik auch in Jerusalem
Die Umsetzung der Idee scheiterte nicht zuletzt am Widerstand der Muezzine, die den Verlust ihrer Arbeitsplätze befürchteten. Eine Synchronisierung des Azan, meinten Kritiker, sei außerdem dem Geist des Gebetsrufs abträglich. Zu diesem Schluss kam man auch in den muslimischen Stadtvierteln von Jerusalem. Um die Lautstärke der Muezzinrufe zu reduzieren, sollten dort alle Moscheen mit kleineren Lautsprechern ausgestattet werden – was an Geldmangel scheiterte.
Versuche, die nächtliche Nutzung von Lautsprechern an Moscheen per Gesetz zu verbieten und unter hohe Strafen zu stellen, waren in der heiligen Stadt auch am Widerstand streng religiöser jüdischer Kreise gescheitert. Sie befürchteten negative Auswirkungen bei der Ausübung ihrer eigenen Religion.
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