Nepal, ein Jahr danach
Nepal, ein Jahr danach
Von Christine Möllhoff
Wenn der Sturm durchs Kathmandu-Tal fegt, muss Nirmala Srestha das Dach festhalten, damit es nicht wegfliegt. „Ich habe Angst, dass der Wind mir den letzten Schutz raubt, den ich noch habe“, sagt die 48-jährige aus dem Dorf Bungamati, das einst mit seinen traditionellen Bauten und Tempeln als eines der hübschesten Dörfer im Tal galt. Bis das große Beben binnen Sekunden ihr Haus und das Dorf zerstörte. Ein Jahr ist das her. Und noch immer hausen sie und ihre Familie in einem Wellblech-Verschlag, der kaum den Namen „Hütte“ verdient.
„Wir wissen nicht mehr weiter"
Durch die Ritzen pfeift der Wind. „Wir sind alle ständig krank“, erzählt ihr Mann Devendra. Erst setzte ihnen der harte Winter zu, nun naht die Regenzeit. „Wir wissen nicht mehr weiter.“ Es geht ihnen nicht alleine so. Bis heute hat sich Nepal nicht von dem verheerenden Erdbeben erholt, das am 25. April mit einer Stärke von 7,8 auf der Richterskala den Himalaya-Staat erschütterte. Mit fast 9000 Toten war es die schlimmste Naturkatastrophe seit 80 Jahren in der Geschichte des Landes. 770 000 Häuser sowie tausende Schulen und Hospitäler wurden zerstört, ganze Dörfer plattgemacht, Millionen Menschen verloren mit einem Schlag ihr Dach über dem Kopf.
Die Spuren der Katastrophe sind noch immer allgegenwärtig. Millionen Menschen leben weiter in Notunterkünften, einige in Camps, andere haben sich notdürftige Hütten gezimmert. Ruinen säumen die Straßen, in den Städten liegen Tempel, Paläste und andere historische Bauen in Trümmern. Kliniken behandeln Patienten in Zelten oder in provisorischen Gebäuden. Und noch immer findet man Leichen. Erst Ende März wurde am Ufer des Langtang-Flusses wieder ein Skelett entdeckt, nicht unweit davon zwei Schuhe. Ein DNA-Test soll die Identität klären. Weiter werden am Langtang-Tal 82 Menschen vermisst, darunter auch ausländische Touristen.
Die Armen sind auf sich gestellt
Der Naturkatastrophe folgt eine menschengemachte Tragödie. Vielerorts sind die Armen auf sich gestellt und müssen zusehen, wie sie überleben. In aller Eile hatten Helfer die Menschen nach der Katastrophe zwar mit dem Nötigsten versorgt. Doch der eigentliche Wiederaufbau kommt seitdem kaum voran. Dabei ist Geld da: Eine internationale Gebergemeinschaft hat Nepal, das zu den 20 ärmsten Ländern dieser Welt zählt, rund vier Milliarden US-Dollar zugesagt.
Doch Nepals Politiker zerreiben sich seit Monaten lieber in Machtkämpfen und Zänkereien um die neue Verfassung als sich um die Nöte der Erdbeben-Opfer zu kümmern. Erst im Dezember wurde eine Behörde eingerichtet, die für den Wiederaufbau zuständig ist. Auch die scheint es nicht eilig zu haben. Die Masse der Betroffenen wartet bisher vergeblich auf das Hilfsgeld von 200 000 Rupien, umgerechnet 1 666 Euro, das die Regierung versprochen hat. Sushil Gyawali, Chef der Wiederaufbaubehörde, macht wenig Hoffnung auf mehr Tempo. Erst in fünf Jahren werde der Wiederaufbau komplett sein, wiegelt er ab.
Einbruch beim Tourismus
Die Not verschärft sich durch den Einbruch beim Tourismus. Viele Nepalesen leben vom Geschäft mit Urlaubern, Trekkern und Alpinisten. Aber Gästehäuser und Hotels sind nur halb voll, die Buchungen liegen deutlich unter den Vorjahren. Nur langsam kehren die ersten Bergsteiger an den Mount Everest zurück, der Schock sitzt noch tief. Das Erdbeben hatte eine gewaltige Lawine ausgelöst, die 21 Bergsteiger unter sich begrub. Eine zweite Lawine ging am Langtang-Tal los und tötete 250 Menschen.
Auch die internationalen Hilfsorganisationen sind entnervt und wollen den Wiederaufbau vorantreiben. Die westlichen Geberländer würden die zugesagten Gelder nicht ewig bereithalten, warnt Jeff Franklin von Save the Children. Die Menschen wollen endlich raus aus den Verschlägen und Zelten, die im Sommer wie Backöfen aufheizen und im Winter kaum Schutz vor der Kälte bieten. „Warum geben sich uns nicht einfach das Geld, damit wir mit dem Aufbau beginnen können?“ schimpft die junge Mutter Sanu aus dem Dorf Sankhu, die mit Mann und Kind weiter in einer zugigen Hütte wohnt.
Andere überschulden sich, um mit Krediten den Hausbau selbst zu finanzieren. Oder klauben aus den Trümmern Steine zusammen, um sich ein Nothaus zu bauen. Zehntausende Familien haben inzwischen ihre Häuser auf eigene Faust wiederaufgebaut. Ohne staatliche Zuschüsse. Ob sie am Ende noch Geld vom Staat sehen, ist fraglich. Die Regierung pocht darauf, dass die Häuser bebensicher errichtet werden, aber viele Menschen wissen nicht, was das beim Bau konkret bedeutet. Sie können so ganz leer ausgehen.
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