Fragen und Antworten: Steht im Iran ein Regimewechsel bevor?
Fragen und Antworten: Steht im Iran ein Regimewechsel bevor?
Von Michael Wrase
Seit dem in einem Gefängnis der Sittenpolizei herbeigeführten Tod der Kurdin Mahsa Amini vor zwei Monaten gehen die Menschen im Iran auf die Straßen. Ihr Ziel ist längst nicht mehr nur die Abschaffung der Kopftuchpflicht. Es geht darum, das politische System der Islamischen Revolution zu stürzen und einen Regime-Change in Teheran herbeizuführen. Rund 500 Menschen wurden während der landesweiten Demonstrationen erschossen, die trotz massiver Repressionen unvermindert weitergehen.
Die iranische Protestbewegung bezeichnet den Widerstand gegen das islamische Regime als „eine neue Revolution“. Doch trifft dies wirklich zu? Kann man tatsächlich schon von einer „revolutionären Situation“ im Iran sprechen?
Die meisten Irankenner sind sich einig, dass es sich bei der Protestbewegung noch immer um eine „Minderheit“ handelt. Es seien Zehntausende auf den Straßen, „aber nicht Millionen“, wie während der islamischen Revolution von 1978 und 1979, betont Ali Vaez, der Iran-Experte der Brüsseler Denkfabrik International Crises Group. Die Mehrheit der Bevölkerung bestünde aus der Mittelschicht. Sie zögere, sich der Protestbewegung anzuschließen, weil sie fürchte, auch das wenige, das sie besitze, noch zu verlieren – dies für eine ungewisse Zukunft, da es noch keine praktikable Alternative zu dem Regime der Mullahs in Teheran gebe.
Was müsste im Iran passieren, damit sich aus der Protestbewegung eine „neue Revolution“ entwickelt?
Die Aufständischen müssten eine „Gegenmacht ausüben“, sagt Andreas Böhm, Nahost-Experte an der Universität St. Gallen. Die Revolution von 1979 sei vor allem deshalb erfolgreich gewesen, weil sich die „Basaris“, die Geschäftsleute in den iranischen Basaren, ihr angeschlossen und landesweite Streiks die Ölförderung und die Industrie lahmgelegt hätten: „Zwei wesentliche gesellschaftliche Gruppen“, so Böhm, „legten ihre Macht in die Waagschale. Doch so weit sind wir heute noch nicht“.
Hat die Protestbewegung im Iran denn klare Strukturen? Und gibt es, wie 1979 mit dem Ayatollah Khomeini, Persönlichkeiten, die eine Führungsrolle in der Opposition übernehmen könnten?
Nein. Mögliche Leader-Figuren wurden vom Regime verhaftet. Und die Opposition im Exil ist zerstritten. Iranische Exilanten und Exilgruppen, betont nicht nur der Iranexperte und Buchautor Michael Lüders, hätten auf die Entwicklung im Iran keinen nennenswerten Einfluss. Vor diesem Hintergrund verfolge die Protestbewegung „eine Guerilla- und Partisanenstrategie“, die versuche, die Staatsmacht langsam zu zermürben, erklärt der Irankenner Andreas Böhm.
Eine solche asymmetrische Strategie erzeuge von außen mitunter den Anschein, dass die Demonstrationen abnähmen. In Wirklichkeit sei die Protestintensität eher wellenförmig – nicht zuletzt deshalb, um der Repression des Regimes zu entgehen. Selbst wenn die Proteste nachließen, würde „ein einziger Funke die Bewegung wieder beleben“, glaubt Ali Vaez vom International Crisis Group. Eine völlige Unterdrückung sei höchst unwahrscheinlich.
Im Zentrum des politischen Systems im Iran steht Revolutionsführer Ali Khamenei, der mit allen Mitteln die alte Ordnung zu verteidigen versucht. Der allmächtige Geistliche ist 83 Jahre alt und krank. Welche Auswirkungen hätte sein Tod auf die Protestbewegung? Was wird nach Khameinis Ableben im Iran passieren?
Die stärksten Kräfte innerhalb der Staatsmacht, die Revolutionsgarden oder Wächter, welche das Rückgrat des Regimes bilden, werden versuchen, einen ihnen genehmen und steuerbaren Nachfolger für Khamenei zu installieren. Um den Machterhalt zu sichern und Geschäftsinteressen zu wahren, wären Zugeständnisse im gesellschaftlichen Leben vorübergehend denkbar, glaubt Andreas Böhm. Politische Freiheiten seien unter einer Herrschaft der Revolutionswächter freilich nicht zu erwarten.
Mittelfristig, befürchtet Michael Lüders, der in Beirut und Berlin Orientalistik studierte, „könnte sich Iran unter der Führung der Gardisten von einer Theokratie in eine militärgestützte Autokratie wandeln, vergleichbar etwa mit dem Militärregime Ägypten“.
Was sich im Iran abspielt, ist letztendlich ein iranisches Drama, bei dem der Westen und andere ausländischen Parteien nur Zuschauer sind.
Ali Vaez, der Iran-Experte der Brüsseler Denkfabrik International Crises Group
Welche Strategie sollte der Westen angesichts der Proteste im Iran einschlagen? Sind weitere Sanktionen sinnvoll?
Iran ist bereits eines der am stärksten sanktionierten Länder der Welt. Die Hauptlast der Zwangsmaßnahmen trägt die Bevölkerung, vor allem die breite Mittelschicht. Die Revolutionswächter kontrollieren die Schmuggelrouten und den aufgrund der Sanktionen entstandenen Schwarzmarkt. „Sie sind die eigentlichen Gewinner der Sanktionen“, unterstreicht Böhm. Der Westen dürfe auch vor diesem Hintergrund im Iran „keinen Schaden anrichten“, warnt Vaez und betont: „Was sich im Iran abspielt, ist letztendlich ein iranisches Drama, bei dem der Westen und andere ausländischen Parteien nur Zuschauer sind“.
Macht es jetzt noch Sinn, die Atomverhandlungen mit Iran weiterzuführen?
Eine Fortsetzung der Gespräche ist im gegenwärtigen politischen Klima kaum möglich. Darin sind sich die meisten Irankenner und Beobachter einig. Wenn die atomare Bewaffnung des Irans ausgeschlossen werden solle, ohne dabei auf militärische Mittel zurückzugreifen, würden „nicht mehr viele Optionen übrig bleiben“, sieht nicht nur der an der Universität St. Gallen lehrende Irankenner Andreas Böhm „den Westen in einem Dilemma“.
Die Islamische Republik, warnt Ali Vaez in diesem Zusammenhang, habe „eine lange Geschichte der Schocktherapie“: Von der Geiselnahme in der US-Botschaft in Teheran 1979 bis zu dem Krieg mit Irak in den 80er-Jahren hätten vom Ausland herbeigeführte Krisen dem Regime immer geholfen, seine Macht zu festigen.
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