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„Macron hat die Reform angepackt wie ein Buchhalter“
International 6 Min. 13.03.2023
Frankreich

„Macron hat die Reform angepackt wie ein Buchhalter“

Der französische Soziologe Jean Viard hält das Renteneintrittsalter mit 64 für „idiotisch“.
Frankreich

„Macron hat die Reform angepackt wie ein Buchhalter“

Der französische Soziologe Jean Viard hält das Renteneintrittsalter mit 64 für „idiotisch“.
Foto: AFP
International 6 Min. 13.03.2023
Frankreich

„Macron hat die Reform angepackt wie ein Buchhalter“

Die Französinnen und Franzosen demonstrieren erbittert gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre. Mit ihren Protesten verteidigen sie die Werte des Landes, wie der Soziologe Jean Viard erläutert.

Von Christine Longin (Paris)

Seit Wochen demonstrieren Millionen Menschen in Frankreich gegen die Pläne der französischen Regierung, das Renteneintrittsalter von 62 auf 64 Jahre zu erhöhen. Ein Gespräch mit dem Soziologen Jean Viard über die Hintergründe der ausgeprägten französischen Protestkultur.

Jean Viard, kaum eine andere Gesellschaft protestiert so ausgiebig und so kompromisslos wie die Franzosen. Woher kommt diese Protestkultur?

Sie beginnt mit der Französischen Revolution 1789, die gezeigt hat, dass wir den Kampf lieben. Die Revolution ist heute noch ein Symbol und wir sind stolz auf sie. Aber es gibt ähnliche symbolische Daten, die unsere Gesellschaft geprägt haben: 1848, 1936, 1968.

Emmanuel Macron hat seine Landsleute einmal als widerspenstige Gallier bezeichnet, die sich jeder Veränderung widersetzen. Hatte er recht?

Mit den widerspenstigen Galliern wäre ich vorsichtig. Es stimmt, dass in Frankreich oft demonstriert wird. Aber es handelt sich hier nicht um Nationalfolklore. Es geht uns um Werte. Streiks und Demonstrationen sind so etwas wie ein identitätsstiftendes Element. Die Linke nutzte sie, um 1936 den bezahlten Urlaub durchzusetzen. Seither ist eine Art Mythos des sozialen Fortschritts damit verbunden.


Hunderttausende Franzosen demonstrieren gegen Rentenreform
Erneut haben sich am Donnerstag landesweit rund 440.000 Menschen zu Streiks und Massenprotesten gegen die Rentenreform in Frankreich zusammengefunden.

Welches sind die Werte, für die die Französinnen und Franzosen auf die Straße gehen?

Uns geht es um den Wert der Freiheit. Wir haben unser Land seit der Französischen Revolution auf der Idee der Freiheit aufgebaut. Die Freiheit ist für uns absolut zentral. Wenn man eine Reform umsetzen will, muss man das im Namen der Freiheit tun. Emmanuel Macron hat genau das Gegenteil gemacht. 

Streiks und Demonstrationen sind so etwas wie ein identitätsstiftendes Element.

Jean Viard

Er hat die Reform wie ein Buchhalter angepackt und damit eine politische Dummheit begangen. Er hat sich von der Unternehmensberatung McKinsey beraten lassen. Diese hat ausgerechnet, dass die Rentenkassen bei einem Eintrittsalter von 64 Jahren ausgeglichen sein werden. Als wären wir eine Zeile in einer Unternehmensbilanz. Dabei ist ein Renteneintrittsalter mit 64 Jahren idiotisch.

Seit Wochen demonstrieren Millionen Menschen in Frankreich - wie hier in Marseille - gegen die Rentenpläne der Regierung.
Seit Wochen demonstrieren Millionen Menschen in Frankreich - wie hier in Marseille - gegen die Rentenpläne der Regierung.
Foto: AFP

Warum?

In der Praxis wird die Rente mit 64 nur eine kleine Gruppe von Leuten betreffen. Die Arbeitnehmer, die vor ihrem 21. Geburtstag angefangen haben zu arbeiten, werden früher in Rente gehen - auch mit der Reform. Und die Akademiker müssen durch ihre lange Studienzeit ohnehin über 64 Jahre hinaus arbeiten. Doch indem der Akzent nun auf die 64 Jahre gesetzt wird, haben alle den Eindruck, dass sie länger arbeiten müssen.

Von außen betrachtet sieht es so aus, als würden sich die Französinnen und Franzosen jeder Reformen widersetzen. Sind Reformen in Frankreich überhaupt möglich?

Wir setzen durchaus Reformen um. Und die Leute wissen auch, dass die Reformen letztlich kommen werden. Das beste Beispiel ist die Homo-Ehe. 2013 gab es riesige Kundgebungen dagegen, doch die Reform wurde trotzdem verwirklicht. Die einzige Reform, die wirklich zurückgezogen wurde, war die des Schulsystems 1984.


07.03.2023, Frankreich, Bordeaux: Eine Person tr�gt ein Plakat mit einem Wortspiel zum Wort �Ruhestand� auf dem zu lesen ist: �Genug! Wir werden wie Schei�e behandelt!� w�hrend einer Demonstration, um gegen die geplante Rentenreform zu protestieren. M�llm�nner, Versorgungsarbeiter und Lokf�hrer geh�ren zu den Menschen, die am Dienstag in ganz Frankreich ihre Arbeit niederlegen, um ihrem �rger �ber einen Gesetzentwurf Ausdruck zu verleihen, der das Rentenalter auf 64 Jahre anhebt und den die Gewerkschaften als eine allgemeine Bedrohung des franz�sischen Sozialmodells ansehen. Foto: Philippe Lopez/AFP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Frankreich: „Die Wut der Arbeitenden wird immer stärker“
Über die Einführung der Rente mit 64 entscheiden die nächsten Tage. Die Gewerkschaften geben in ihrem Widerstand keinen Fingerbreit nach.

François Mitterrand wollte die Privatschulen, die meist katholisch sind, weitgehend abschaffen. Doch er musste sein Projekt aufgeben. Die Gesellschaft wehrte sich dagegen, weil man ihr eine Freiheit nahm. Die Familien konnten nicht mehr wählen, ob sie ihre Kinder auf eine staatliche oder private Schule schicken, die auch bei denen beliebt ist, die nicht katholisch sind.

Macrons Gegner sagen, seine Reform sei ungerecht. Warum?

Es herrscht der Eindruck vor, dass die Rente mit 64 vor allem den Geringverdienern auf dem Land aufgezwungen wird, die vorher schon andere Dinge wie die Geschwindigkeitsbegrenzung auf den Landstraßen schlucken mussten. Und dass die städtischen Eliten mit Universitätsabschlüssen nicht davon betroffen sind.

Dieser Bruch existiert tatsächlich, denn der Welt von Emmanuel Macron gehören viele hoch Diplomierte an, die die Welt der Geringverdiener kaum kennen.

Jean Viard

Es geht also um den Bruch zwischen den Eliten und dem Volk, ähnlich wie bei den Gelbwesten. Dieser Bruch existiert tatsächlich, denn der Welt von Emmanuel Macron gehören viele hoch Diplomierte an, die die Welt der Geringverdiener kaum kennen. Er und seine Leute sind brillante Absolventen der Eliteschulen des Landes. 


07.02.2023, Frankreich, Marseille: Ein Mann hält eine gezündete Fackel während er an einem Protest gegen die geplante Rentenreform teilnimmt. Frankreichs Mitte-Regierung unter Staatschef Macron will das Renteneintrittsalter schrittweise von 62 auf 64 Jahre anheben. Die Anhebung der nötigen Einzahldauer für eine volle Rente will sie beschleunigen. Außerdem sollen Einzelrentensysteme mit Privilegien für bestimmte Berufsgruppen abgeschafft werden. Foto: Gilles Bader/Le Pictorium Agency via ZUMA/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Wieder Streiks und Proteste gegen Rentenreform in Frankreich
Am Donnerstag könnte ein erneuter Streik gegen die Rentenreform in Frankreich erneut für chaotische Verhältnisse im öffentlichen Nahverkehr sorgen.

Aber sie haben keine Empathie mit der Kassiererin, der der Arm weh tut. Oder der Krankenschwester, deren Rücken Probleme macht, weil sie den ganzen Tag Patienten hebt.

Doch auch in Frankreich wird die Gesellschaft immer älter und das Rentensystem immer kostspieliger. Zählt dieses Argument nicht?

Die Regierung spricht gar nicht davon, dass die Männer seit 1980 durchschnittlich neun Jahre an Lebenserwartung dazu gewonnen haben und die Frauen sechs. Und dass sich damit auch die Zeit verlängert, in der man Rente bekommt. Dabei ist die Verlängerung der Lebenserwartung doch ein ganz außergewöhnlicher Erfolg.

Die Menschen haben unter dem sozialistischen Präsidenten François Hollande 2013 akzeptiert, dass die Zahl der Beitragsjahre auf 43 erhöht wird. Ich denke, dass mit einer entsprechenden Begründung auch eine langsame und schrittweise Erhöhung auf 44 Beitragsjahre hingenommen worden wäre. Schließlich will doch jeder, dass die Rentenkasse ausgeglichen ist, auch wenn das kaum einer sagt. Das ist ja auch unser Geld.

Kann Macron überhaupt noch etwas bewegen?

Das ist die Frage. Er war als Reformer angetreten und seine Schwierigkeit besteht nun darin, dass er seine Vorhaben nicht so umsetzen kann, wie er eigentlich möchte. Dafür hat er es aber geschafft, die französische Wirtschaft wieder nach vorne zu bringen. 


French CGT union general secretary Philippe Martinez (C) and French Union syndicale Solidaires (SUD) union co-general delegates Murielle Guilbert (R) participate in a demonstration, as part of a nationwide day of strikes and protests called by unions over the proposed pensions overhaul, in Paris on March 11, 2023. - The reform proposed by the government includes the raise of the minimum retirement age from 62 to 64 years and the increase of the number of years people have to make contributions for a full pension. Unions have vowed to keep up the pressure on the government, with a seventh day of mass protests, and some have even said they would keep up rolling indefinite strikes. (Photo by Emmanuel DUNAND / AFP)
Franzosen gegen Rentenreform auf der Straße
Im Streit um die Rentenpläne der französischen Regierung haben die Gewerkschaften am Samstag erneut zu Protesten mobilisiert.

Wir sind das Land in Europa mit den meisten Investitionen. Und die Arbeitslosigkeit ist auf spektakuläre Art zurückgegangen. Was von Macron bleiben wird, ist sein wirtschaftlicher Erfolg. In zehn Jahren wird man vielleicht sagen, dass er ein großer Präsident für die Industrie war.

 Aber kein Reformer?

Nicht wirklich. Er versucht es mit der Abtreibung, die in die Verfassung kommen soll oder dem Recht auf ein selbstbestimmtes Lebensende. Mit solchen Themen liegt er aber neben seinem eigentlichen Programm.

Was von Macron bleiben wird, ist sein wirtschaftlicher Erfolg. In zehn Jahren wird man vielleicht sagen, dass er ein großer Präsident für die Industrie war.

Jean Viard

Wie geht es denn jetzt mit der Rentenreform weiter?

Die Rentenreform wird umgesetzt, denke ich. Es wird sicher noch Streiks geben, punktuelle Protestaktionen und Gewalt. Danach werden wir zu etwas anderem übergehen. Die extreme Rechte wird gestärkt aus der Reform hervorgehen. Ihre Wählerschaft, die Geringverdiener, werden sehr frustriert sein, weil man sie nicht von der Reform überzeugt hat. Die Regierung hat da ihre Arbeit nicht gemacht.

Wird das nicht auch das Misstrauen der Französinnen und Franzosen in die Regierung stärken?

Das ist sicher. Nach dem Ende dieser Protestbewegung ist die Frage, wie man Marine Le Pen als Präsidentin 2027 verhindern kann. Denn die Reform wird Le Pen Wähler bringen. Diejenigen, die sie wählen, sind auch die, die von der Reform am meisten betroffen sind. Ich sage nicht, dass sie gewählt werden wird. Aber die Wahrscheinlichkeit ist gestiegen. 

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