Russland und seine arktischen Sorgen
Russland und seine arktischen Sorgen
Von Stefan Scholl (Moskau)
Das Patroullienboot, das 2019 in Sankt Petersburg vom Stapel lief, und 2023 in Dienst genommen werden soll, hört auf den Namen des sowjetischen Polarforschers Iwan Panin. Das Kriegsschiff macht 18 Knoten (gut 33 km/h) und besitzt einen Hubschrauberlandeplatz, aber vor allem bricht es bis zu 1,7 Meter dickes Eis. Das erste Schiff des neuen Projektes 23550 „Arktika“, mit der Russland seine Flotte im Polarmeer verstärken will.
„In Russland entsteht vielleicht eine Arktische Kriegsflotte“, titelte die Zeitung „Kommersant“ vor kurzem. Der neue Verband solle vor allem die Sicherheit der sogenannten Nordmeerroute gewährleisten, dem neuen Seeweg von Nordeuropa durch die tauende Arktis in den Pazifikraum. Nach Angaben der Regierungszeitung „Rossijskaja Gaseta“ sind dort bereits fünf zivile Eisbrecher im Einsatz, sie sollen nun durch bewaffnete Gegenstücke ergänzt werden.
Aber vergangene Woche meldete die Agentur Interfax unter Berufung auf regierungsnahe Kreise, Russland plane keine neue Kriegsflotte für Operationen in der Arktis, die Kräfte der Nordmeerflotte reichten völlig aus, um Russlands polare Interessen zu verteidigen. Diese Meldung ist eines von zahlreichen Signalen dafür, dass Moskau seine arktische Strategie überdenkt.
Unter Wladimir Putins Gas- und Öl-Regime galt der Nordpol als der neue Bauchnabel der russischen Geopolitik. Während ein Großteil der Weltöffentlichkeit das Abtauen des Arktis-Eises mit wachsender Angst verfolgte, sahen die Russen vor allem den Klondike auf dem Meeresgrund darunter, mindestens 13 Prozent der Öl- und 30 Prozent der Gasreserven weltweit.
Der Kreml prognostizierte einen erbitterten Konkurrenzkampf mit den rohstoffarmen Industrieländern um diese Schätze. Man meldete bei der UN lautstark Ansprüche auf zwei Unterwassererhebungen an, die sogenannten Lomonossow- und Mendelejew-Rücken. Diese seien Verlängerungen des eurasischen Festlandsockels und gehörten deshalb inklusive der dort lagernden Bodenschätze zu Russland. Und die werde man verteidigen.
Die Nordmeerroute als Nationalprojekt
Alte Luftwaffenstützpunkte und Radarstationen wurden wieder in Besitz genommen, neue eingerichtet, russische Fallschirmjäger trainieren demonstrativ Landungsmanöver auf Eisschollen.
Und die Nordmeerroute gilt nach wie vor als Nationalprojekt. Vizepremier Juri Trutnew erklärte unlängst, schon in drei Jahren würden statt 33 Millionen Tonnen Güterverkehr 85 Millionen Tonnen durch die arktischen Meere schwimmen. Noch würde eine Milliarde Tonnen Güter jährlich durch den Suez-Kanal geschifft. „Aber wir werden dem Suez-Kanal langsam sein Transportvolumen abnehmen, zumal der Weg viel weiter ist.“ Die Nordmeerroute vom Ostseehafen Petersburg bis Wladiwostok beträgt 14.000 Kilometer, die Alternative durch den Suez-Kanal 23.000 Kilometer.
Allerdings lästert die Zeitung „Nowaja Gaseta“ schon, dass internationale Frachter im arktischen Meer noch immer eher auf die Hilfe von Eisbrechern als von Kriegsschiffen angewiesen sind. „Um ihre Beute wegzuschaffen, müssten auch die Piraten Eisbrecher der Nordmeerflotte um Hilfe bitten.“ Noch ist Eisfreiheit im Winter eher die Ausnahme, nach Angaben des Portals Banki Segodnja, aber kostet die Begleitung eines russischen Eisbrechers 380.000 US-Dollar. Auch russische Experten glauben, ein Großteil der Handelsschifffahrt werde angesichts mangelnder Häfen und der praktisch nicht vorhandenen Umschlagmärkte an den sibirischen oder jakutischen Nordküsten weiter den Suez-Kanal und den Indischen Ozean bevorzugen.
Die grünen Gedanken von Putin
Außerdem zeichnet sich angesichts des wachsenden Anteils alternativer Energien in der Weltwirtschaft ab, dass teure Öl- oder Gasförderprojekte auf dem arktischen Meeresgrund in absehbarer Zukunft nicht rentabel sein werden. „In den kommenden Jahrzehnten wird die Nachfrage nach Gas in Europa und in Asien komplett durch die Ausbeutung der traditionellen Lagerstätten auf dem Festland gedeckt werden“, konstatiert ein Arktis-Bericht der Moskauer Higher School for Economy (HSE).
Wir erwarten künftig eine bewusstere vaterländische Politik in der Arktis.
Boris Morgunow, Ökologie-Professor der HSE
Außerdem bemüht sich der Kreml um ein grüneres Image. Putin verkündete kürzlich, Russland werde bis 2060 klimaneutral. Manche Experten halten das für eine Sprechblase. Aber auch in Moskau wächst die Sorge über den Klimawandel. Die Regierung befürchtet, dass das Auftauen der Permafrostzone in Russlands Norden Schäden in Höhe von 70 Milliarden US-Dollar anrichten, unabhängige Experten reden von 250 Milliarden US-Dollar.
Gemeinsame Forschungsprojekte initiieren
„Wir erwarten künftig eine bewusstere vaterländische Politik in der Arktis“, sagt Boris Morgunow, Ökologie-Professor der HSE. Russland stelle dort nicht mehr allein die Bodenschätze in den Mittelpunkt, sondern kalkuliere zusehends die Prioritäten des Pariser Klima-Abkommens mit ein. Und es setze zusehends auf internationale Zusammenarbeit, vor allem mit den anderen Mitgliedsstaaten des Arktischen Rats. Seit Russland im Mai dort den Vorsitz übernahm, hat es mehrere gemeinsame Forschungsprojekte gestartet.
Russische, schwedische und norwegische Wissenschaftler untersuchen gemeinsam die Freisetzung von im arktischen Eis „eingefrorenem“ Methan beim Schmelzen der Polkappen. „Das sind gigantische Mengen von Treibgas, die alle Naturgasreserven in den traditionellen Lagerstätten um das Zehntausendfache überschreiten“, sagt Morgunow. Sobald sie salvenweise in die Atmosphäre gerieten, könnte sich das enorm auf die Erderwärmung auswirken.
Der Bau bewaffneter Eisbrecher ist nicht mehr die einzige arktische Sorge Russlands.
Folgen Sie uns auf Facebook, Twitter und Instagram und abonnieren Sie unseren Newsletter.
Als Abonnent wissen Sie mehr
In der heutigen schnelllebigen Zeit besteht ein großer Bedarf an zuverlässigen Informationen. Fakten, keine Gerüchte, zugänglich und klar formuliert. Unsere Journalisten halten Sie über die neuesten Nachrichten auf dem Laufenden, stellen politischen Entscheidern kritische Fragen und liefern Ihnen relevante Hintergrundgeschichten.
Als Abonnent haben Sie vollen Zugriff auf alle unsere Artikel, Analysen und Videos. Wählen Sie jetzt das Angebot, das zu Ihnen passt.
