Juncker zieht Bilanz: "Passen Sie gut auf Europa auf"
Juncker zieht Bilanz: "Passen Sie gut auf Europa auf"
Abschied von der großen Bühne: In einer Rede vor dem Europaparlament in Straßburg hat EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker am Dienstag Bilanz über seine fünfjährige Amtszeit gezogen.
"Ich bin nicht betrübt, aus dem Amt zu scheiden, aber auch nicht übermäßig glücklich. Ich habe das Gefühl, mich redlich bemüht zu haben", sagte Juncker gegen Ende seines persönlichen Rückblicks, während er sich die ein oder andere Träne aus den Augen wischte. „Ich war stolz darauf, während langer Zeit und vor allem in den letzten fünf Jahren ein kleines Teilchen eines größeren Ganzen zu sein, das wichtiger ist als wir.“
Wenn man als Luxemburger in Washington sitzt und sagt 'I am the man', c'est du jamais vu.
Jean-Claude Juncker über sein Treffen mit Donald Trump
"Passen Sie gut auf Europa auf. Und sorgen Sie dafür, dem dummen und bornierten Nationalismus mit aller Kraft Einhalt zu gebieten", rief der Luxemburger energisch den Abgeordneten zu, bevor er das Podium verließ. "Es lebe Europa."
Zuvor hatte der EU-Kommissionspräsident erklärt, es habe "Hoch- und Tiefpunkte" unter seiner Ägide gegeben. Es sei zum Beispiel nicht gelungen, eine Bankenunion zu verwirklichen. Auch die Wiedervereinigung Zyperns lasse weiter auf sich warten, ebenso wie ein Abkommen der EU mit der Schweiz. Bei der Migration und der Flüchtlingsumsiedlung seien viele Vorschläge aus Brüssel aus innenpolitischen Gründen von den EU-Mitgliedsstaaten blockiert worden, bedauerte Juncker.
In Bezug auf die drei Schwerpunkte seiner Kommission – Wachstum, Beschäftigung und Investitionen – habe es sichtbare Fortschritte gegeben. "Wir haben 14 Millionen neue Arbeitsplätze in Europas geschaffen", so Juncker, der auf Erfolge des 2014 von ihm gestarteten Investitionsprogramms, des sogenannten Juncker-Plans, verwies. Insgesamt wurden über einen mit 21 Milliarden Euro bestückten Fonds nach Angaben der EU-Kommission Investitionen in Höhe von 439,4 Milliarden Euro mobilisiert. Außerdem sei es gelungen, Griechenland nach der Schuldenkrise "die Würde zurückzugeben".
"Frieden ist nicht selbstverständlich"
Der Luxemburger erinnerte daran, dass die Europäische Union vor allem auch ein Friedensprojekt sei. „Frieden ist nicht selbstverständlich und wir sollten stolz darauf sein, dass Europa den Frieden erhält“, sagte er. Darüber müsse man auch mit jungen Menschen reden.
Junckers Rede im EU-Parlament (im Video ab 2:46:50 Stunden):
"Das hat Trump beeindruckt"
Gegen Ende seiner Rede wurde Juncker emotional. Er erinnerte an sein Treffen mit US-Präsident Donald Trump im Juli 2018. Der EU-Kommissionspräsident reiste damals nach Washington, um einen drohenden Handelskrieg mit den USA abzuwenden – und kehrte tatsächlich mit einem Deal aus dem Weißen Haus zurück. Er habe Trump erklärt, so Juncker, dass bei Handelsfragen allein die EU-Kommission zuständig sei. Das habe den US-Präsidenten sehr beeindruckt. "Wenn man als Luxemburger in Washington sitzt und sagt 'I am the man', c'est du jamais vu", meinte Juncker und erhielt Applaus aus dem Plenum.
Die Amtszeit des 64-jährigen Politveterans endet eigentlich am 1. November. Weil seine Nachfolgerin Ursula von der Leyen ihr Team noch nicht vollständig beisammen hat, bleibt Juncker aber noch mehrere Wochen Chef der EU-Kommission.
Juncker zum Brexit: "Zeit- und Energieverschwendung"
Vor Junckers Bilanzrede ging es in Straßburg um die Ergebnisse des EU-Gipfels vorige Woche. Dort hatte der britische Premierminister Boris Johnson mit der EU-Kommission und den übrigen 27 Staaten einen neuen Austrittsvertrag vereinbart, den er noch vor dem Austrittsdatum 31. Oktober in Kraft setzen will.
Juncker erklärte am Anfang der Debatte, dass die EU "alles in ihrer Macht Stehende" getan habe, um einen geregelten Austritt der Briten zu ermöglichen. "Es hat mir wehgetan, dass ich mich während meiner Amtszeit so lange mit dem Brexit beschäftigen musste, wo ich doch an nichts anderes gedacht habe, wie eine bessere Union für die Bürger geschaffen werden kann ... Eine Zeit- und Energieverschwendung", sagte Juncker.
Er bedauere die Entscheidung des Vereinigten Königreichs, "aber wenigstens können wir uns noch gegenseitig in die Augen sehen". Im Hinblick auf die anstehenden Debatten im Londoner Parlament meinte Juncker, dass die Abgeordneten in Westminister den neuen Brexit-Deal vor dem Europäischen Parlament billigen müssten: "Zuerst London, dann Straßburg."
Bedingungen für Brexit gestellt
Der Brexit-Beauftragte des Europaparlaments, Guy Verhofstadt, hat indes Bedingungen für die Ratifizierung des neuen EU-Austrittsvertrags mit Großbritannien gestellt. Es seien noch einige Probleme zu lösen, sagte Verhofstadt. So müsse ausgeschlossen sein, dass EU-Bürger aus Großbritannien ausgewiesen würden, weil sie Fristen zur Registrierung verpasst hätten oder bedürftig seien. „Ich möchte, dass dieses Problem gelöst ist.“
Im Übrigen werde das Europaparlament dem Austrittsvertrag erst zustimmen, wenn das gesamte Ratifizierungsverfahren in Großbritannien abgeschlossen sei, fügte Verhofstadt hinzu. Das werde nicht mehr diese Woche geschehen. Der Brexit ist für 31. Oktober vorgesehen, also Donnerstag nächster Woche. Premierminister Boris Johnson hatte aber am Wochenende auf Geheiß des britischen Parlaments eine Verlängerung der Austrittsfrist bis Ende Januar beantragt, die die EU-Staaten bewilligen könnten.
Juncker war 2014 nach Brüssel gewechselt. Seine Kommission bezeichnete er damals nach Wahlerfolgen von Rechtspopulisten als die „der letzten Chance“. In seine Amtszeit fallen etliche Krisen der Europäischen Union, darunter die Schuldenkrise, die 2015 fast zum Rauswurf Griechenlands aus der Eurozone geführt hätte, und die Flüchtlingskrise 2015. Im Jahr darauf folgte die Brexit-Entscheidung in Großbritannien, das die Gemeinschaft seither fast pausenlos beschäftigt.
Mit Material von dpa.
Als Abonnent wissen Sie mehr
In der heutigen schnelllebigen Zeit besteht ein großer Bedarf an zuverlässigen Informationen. Fakten, keine Gerüchte, zugänglich und klar formuliert. Unsere Journalisten halten Sie über die neuesten Nachrichten auf dem Laufenden, stellen politischen Entscheidern kritische Fragen und liefern Ihnen relevante Hintergrundgeschichten.
Als Abonnent haben Sie vollen Zugriff auf alle unsere Artikel, Analysen und Videos. Wählen Sie jetzt das Angebot, das zu Ihnen passt.
