Iran: Ein Zugeständnis an die Protestbewegung?
Iran: Ein Zugeständnis an die Protestbewegung?
Von Michael Wrase
Nach mehr als zwei Monaten landesweiter Proteste ist am Wochenende im Iran die umstrittene Sittenpolizei offenbar abgeschafft worden. Diese habe „nichts mit der Justiz zu tun und wurde aufgelöst“, zitierte die staatliche Nachrichtenagentur IRNA Mohammed Jafar Montazeri, den Generalstaatsanwalt der Islamischen Republik. Nach seinen Worten wird in Kreisen des Regimes auch die Kopftuchpflicht diskutiert. Das Parlament und die Justiz, sagte Montazeri, würden sich gegenwärtig mit dem Thema befassen. „In ein oder zwei Wochen“ könnten die Ergebnisse der Debatte vorgelegt werden.
Ob dann eine Änderung des Gesetzes zum Tragen des Kopftuches, womöglich sogar die Aufhebung des seit der Revolution von 1979 bestehenden Verhüllungsgebots beschlossen wird, bleibt abzuwarten. In einer Fernsehansprache hatte der iranische Präsident Ibrahim Raisi am Samstag auf die Verankerung der republikanischen und islamischen Grundlagen in der iranischen Verfassung hingewiesen. Bei deren Umsetzung könnten jedoch „flexible Methoden“ angewendet werden, fügte er hinzu.
Ende für Sittenpolizei als Etappensieg der Protestbewegung
Raisi, ein Hardliner, hatte sich am Wochenende mit mehreren Ministern zu einem Krisengipfel getroffen. Details über die Gespräche wurden nicht genannt. Dass es dabei vor allem um die anhaltenden Proteste im Land und die Forderung der Demonstranten nach einer Aufhebung des Kopftuchzwangs sowie einer Revision der Verfassung ging, erscheint offensichtlich.
Beobachter in der iranischen Hauptstadt werten die am Wochenende erfolgte Abschaffung der Sittenpolizei als einen Etappensieg der Protestbewegung. Die Auflösung der 2006 unter dem damaligen Präsidenten Mahmoud Ahmadinedschad geschaffenen Einheit zur „Verbreitung der Kultur der Sittsamkeit“ sei „das bisher wichtigste Zugeständnis des Regimes an die Demonstranten“, analysiert das Londoner Newsportal „Middle East Eye“ und schreibt: „Die Auflösung ist ein klarer Hinweis darauf, dass die iranischen Behörden nach einem Ausweg aus der Krise suchen“.
Bereits vor zwei Monaten hätten reformorientierte Politiker im Iran öffentlich die Auflösung der Sittenpolizei gefordert. Die liberale Zeitung Etemad (deutsch: Vertrauen) veröffentlichte einen Brief des ehemaligen Parlamentsabgeordneten Elias Hazrati an Staatspräsident Raisi. „Um den Schmerz von Millionen Iranern zu heilen“, hieß es in dem Schreiben, „fordere ich Sie (Raisi) auf, diese unrechtmäßige Polizeibehörde endlich aufzulösen“.
Die Auflösung ist ein klarer Hinweis darauf, dass die iranischen Behörden nach einem Ausweg aus der Krise suchen.
"Middel East Eye", Londoner Newsportal
„Blanke Angst der Herrschenden“ oder Ablenkungsmanöver?
Angehörige der Protestbewegung haben auf die jüngsten Entwicklungen zurückhaltend reagiert. Dass das Regime jetzt doch noch reagiere, zeige die „blanke Angst der Herrschenden“, sagte Simin. Die vom Korrespondenten dieser Zeitung kontaktierte Studentin wollte aus Angst vor Repressalien ihren Familiennamen nicht nennen. Was die Auflösung der Sittenpolizei tatsächlich bedeute, lasse sich erst in einigen Wochen sagen.
Es sei jedoch zu befürchten, dass die Aufgaben der Sittenwächter jetzt andere Polizeieinheiten des Regimes übernehmen könnten. Auch in sozialen Medien überwog die Skepsis. Nach den bitteren Erfahrungen der Vergangenheit mit dem Regime bestünde jetzt kein Grund dafür, die jüngsten Ankündigungen der Mullahs für bare Münze zu nehmen. Vermutlich handle es sich um ein Ablenkungsmanöver, mit dem das Regime seine Haut retten wolle.
Für die neue Woche haben Aktivisten im Internet zu neuen Protesten aufgerufen. Dabei geht es längst nicht mehr um die Aufhebung des Verhüllungsverbotes. Repräsentanten der äußerst heterogenen Protestbewegung fordern seit einiger Zeit „den Sturz des Regimes“. Allerdings fehlen sowohl personelle Alternativen als auch realistische politische Konzepte für einen demokratischen Neuanfang im Iran.
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