In Vancouver gibt es ein Momentum für den Meeresschutz
In Vancouver gibt es ein Momentum für den Meeresschutz
Von Gerd Braune (Vancouver)
Die Staatengemeinschaft hat ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: Um das Artensterben zu stoppen und Biodiversität zu erhalten, sollen bis 2030 jeweils knapp ein Drittel der globalen Land- und der Wasserfläche unter Schutz gestellt werden. Nun muss dieser Beschluss umgesetzt werden. Ein vom 3. bis zum 9. Februar laufender Meeresschutzkongress in Vancouver will der Ausweisung von Schutzzonen in den Ozeanen weiter Schwung verleihen.
Vor sechs Wochen hatte die Weltnaturkonferenz von Montreal beschlossen, mindestens 30 Prozent der Meeres- und Küstenfläche bis 2030 unter Schutz zu stellen. Dies gibt dem „Internationalen Meeresschutz-Kongress“ in Vancouver, kurz IMPAC5 genannt, nach Einschätzung von Fachleuten eine wegweisende Bedeutung. „Das ist eine ganz spannende Konferenz. Das Ziel, 30 Prozent bis 2030 zu erreichen, motiviert, aber wir müssen uns fragen: Wie erreichen wir das denn?“ sagt Martin Sommerkorn vom WWF Arktis-Programm. „Wir spüren viel Energie beim Meeresschutz. Wir müssen das Momentum nutzen“, urteilt Boris Worm, Professor für Meeresbiologie an der Dalhousie-Universität in Halifax.
Wir spüren viel Energie beim Meeresschutz.
Boris Worm, Professor für Meeresbiologie
Ruhig gleitet das Schiff in den Howe Sound an der Pazifikküste bei Vancouver. Dieses landschaftliche Juwel war im September 2021 von der UNESCO zum Biosphärenreservat Átl’ka7tsem/Howe Sound erklärt worden. Átl’ka7tsem nennt die hier lebende Squamish First Nation den 42 Kilometer langen Sund, „nach Norden Paddeln“. Vancouver und der Howe Sound sind das Territorium der Squamish-, der Musqueam und der Tsleil-Waututh-Nationen.
Mehr als 2.000 Quadratkilometer groß ist das Biosphärenreservat. Nur 16 Prozent sind Wasserfläche, wovon einige kleine Bereiche als Schutzgebiete ausgewiesen sind. Die Auszeichnung als Biosphärenreservat wurde Átl’ka7tsem nicht nur wegen der landschaftlichen Schönheit zuteil. Anerkannt wurde damit auch, dass es nach der Schließung einer Kupfermine und einer Schmelzhütte, die die Gewässer mit Schwermetallen verseucht hatten, nach 1974 gelungen war, diese industrielle Verschmutzung abzubauen und eine nachhaltige Entwicklung und Nutzung von Land und Wasser zu fördern, von der auch die indigenen Völker profitieren.
Wasserwege als frühere Highways
Joyce Williams von der Squamish Nation ist Co-Vorsitzende des Gremiums, das das Biosphärenreservat managt. Sie ist an Bord des Schiffs, das Teilnehmer von IMPAC5 in den Howe Sound bringt. „Diese Wasserwege waren unsere Highways“, sagt sie. „Wir paddelten auf und ab, wir folgten unseren Ressourcen, den Fischen. Hier leben wir seit Menschengedenken.“ Ihr Neffe Jonathan ergänzt: „Das ist der Ort, an dem wir leben und den wir lieben, von dem unsere Werte kommen. Ozean, Fluss, Wälder, Tiere und Pflanzen, alles gehört zusammen.“
Das ist der Ort, an dem wir leben und den wir lieben, von dem unsere Werte kommen.
Jonathan Williams, Squamish Nation
Rund 4.000 Teilnehmer aus mehr als 120 Ländern sind zu IMPAC5 gekommen. Die Aufgabe, 30 Prozent der Land- und Wasserfläche zu schützen, ist monumental. Gegenwärtig stehen weniger als zehn Prozent der Weltmeere unter Schutz. Rund 360 Millionen Quadratkilometer groß ist die Ozeanfläche. 30 Prozent bedeutet, dass rund 110 Millionen Quadratkilometer geschützt werden müssen, rechnet Aulani Wilhelm vor, Vizepräsidentin bei Conservation International und derzeit im Weißen Haus in Washington an der Formulierung der US-Naturschutzpolitik beteiligt.
Derzeit aber sind es weniger als 30 Millionen. „Wir müssen eine Lücke von 79 Millionen Quadratkilometern schließen“, sagt die Frau aus Hawaii, die maßgeblich an der Schaffung des Papahānaumokuākea Marine National Monument in Hawaii beteiligt war. Mit 1,5 Millionen Quadratkilometern ist Papahānaumokuākea eines der größten Meeresschutzgebiete.
30 Prozent sind nicht genug
„Die Ozeane sind das System, das unser Leben erhält“, sagt Sylvia Earle. Die 87 Jahre alte Frau, die die erste Chefwissenschaftlerin der US-amerikanischen National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) war, ist eine „Legende“ unter den Meeresfachleuten. 30 Prozent sind gut, aber sie will mehr. „Wie viel unseres Herzens wollen wir schützen? 30 Prozent?“ fragt sie. Der Ozean wird oft als „das blaue Herz unseres Planeten“ bezeichnet. Er reguliert das Klima, absorbiert Kohlendioxid und Wärme und produziert Sauerstoff. Er ist Lebensraum für Tier- und Pflanzenarten und liefert Lebensmittel für die Menschen.
Rund um den Erdball werden nun Meeresgebiete, die besonders wichtig und repräsentativ für Meereshabitate sind, als „marine protected areas“ (MPA) unter Schutz gestellt. Der 1975 geschaffene „Great Barrier Reef Marine Park“ in Australien war mit 344.000 Quadratkilometer Fläche das erste wirklich große Meeresschutzgebiet. „Vor 20 oder 30 Jahren wussten wir noch nicht sehr viel, was in den Schutzzonen passiert. Heute wissen wir: Die Erneuerungskraft der Meere ist erheblich“, sagt Boris Worm. Seegrasflächen und Algenwälder wachsen wieder. Fischbestände erholen sich, auch in angrenzenden Meeresgebieten. Schutzzonen stabilisieren die Biodiversität des Ozeans und haben ökonomische Vorteile für die lokale Bevölkerung. Sie unterstützen nachhaltigen Fischfang und Tourismus.
Heute wissen wir: Die Erneuerungskraft der Meere ist erheblich.
Boris Worm, Professor für Meeresbiologie
Das in Montreal verabschiedete Weltnaturabkommen enthält keine verbindlichen Kriterien für Meeresschutzgebiete. Die Internationale Union zur Bewahrung der Natur (IUCN) hat mit anderen Organisationen Richtlinien erarbeitet, um MPAs zu evaluieren. Diese Richtlinien unterscheiden zwischen mehreren Kategorien, von „voll geschützt“ bis „minimal geschützt“. Grundsätzlich gilt als Minimum für die Anerkennung als Schutzgebiet nach IUCN-Richtlinien, dass Öl- und Gasförderung, Abbau von Metallen und Mineralien und hoch industrialisierter sowie den Meeresboden zerstörender Fischfang wie Grundschleppnetzfischerei dort verboten sein muss. Es dürften keine „Papier-Parks“ entstehen, mahnten Redner, also Parks, die zwar auf dem Papier existieren, aber keinen nennenswerten Schutz bieten.
Blick auf die „Hohe See“
Rund 60 Prozent der Meere sind „Hohe See“. Sie liegen außerhalb der 200-Seemeilenzonen der Küstenstaaten und sind internationale Gewässer. Nun richtet sich der Blick auf Verhandlungen am Sitz der UN in New York Ende dieses Monats. Dort soll ein Abkommen über die Hohe See vereinbart werden, das den Schutz der Meere in internationalen Gewässern erleichtern soll.
Das Abkommen von Montreal hebt die Beteiligung indigener Völker beim Schutz der Natur hervor. Die Territorien der indigenen Völker gehören zu den artenreichsten Regionen der Welt. „Wir können unser 30-Prozent-Ziel ohne die indigenen Völker nicht erreichen“, sagt Joyce Murray, Kanadas Bundesministerin für Fischerei und Ozeane. Squamish, Musqueam und Tsleil-Waututh sind mit der Regierung Kanadas „Gastgeber-Nationen“ des Kongresses. Die Beteiligung der Ureinwohnervölker in den Foren der internationalen Umweltkonferenzen wird immer größer. „Wir haben die legale und moralische Verpflichtung, die indigene Führung beim Schutz von Land und Wasser zu unterstützen“, sagt Kevin McNamee von der Nationalparkbehörde Parks Canada.
Kanada sucht die enge Kooperation mit indigenen Organisationen und „Co-Management“ bei der Verwaltung der Schutzgebiete. Als vor mehr als 100 Jahren die ersten Nationalparks in Kanada entstanden, wurden deren Grenzen an Schreibtischen ohne Berücksichtigung der Ureinwohnervölker festgelegt. Im Extremfall wurden sie vertrieben oder durften die neuen Schutzgebiete, die ihre Jagdgebiete waren, nicht mehr betreten.
Heute wird „indigen geführter Naturschutz“ propagiert. First Nations, Inuit und Métis bestehen darauf, wenn ihre Gemeinden und ihr traditionelles Land berührt sind – und das ist in Kanada fast überall der Fall. Für Joyce Williams von den Squamish bedeutet dieser Politikwandel, dass ihr Volk nun mitbestimmt und mitgestaltet: „Wir nehmen den Raum, in dem unsere Vorfahren lebten, wieder in Besitz.“
Folgen Sie uns auf Facebook, Twitter und Instagram und abonnieren Sie unseren Newsletter.
Als Abonnent wissen Sie mehr
In der heutigen schnelllebigen Zeit besteht ein großer Bedarf an zuverlässigen Informationen. Fakten, keine Gerüchte, zugänglich und klar formuliert. Unsere Journalisten halten Sie über die neuesten Nachrichten auf dem Laufenden, stellen politischen Entscheidern kritische Fragen und liefern Ihnen relevante Hintergrundgeschichten.
Als Abonnent haben Sie vollen Zugriff auf alle unsere Artikel, Analysen und Videos. Wählen Sie jetzt das Angebot, das zu Ihnen passt.
