In Paris zeigt sich die Kraft der roten Westen
In Paris zeigt sich die Kraft der roten Westen
Von Christine Longin (Paris)
Ein Paar Turnschuhe stehen derzeit bei der Gewerkschaft CFDT hoch im Kurs. Sie sind auf den orange-gelben Plakaten abgebildet, mit denen die Arbeitnehmervertretung zu Demonstrationen gegen die Rentenreform aufruft. „Ungerecht und brutal“ seien die Pläne von Präsident Emmanuel Macron, erklärt die größte Gewerkschaft Frankreichs. Die gemäßigte CFDT, die sich 2019 noch von den Protesten gegen Macrons ersten Anlauf einer Rentenreform fern hielt, ist diesmal klar an der Seite der anderen Gewerkschaften. Und ihr Chef Laurent Berger scheut sich nicht, gegen die Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre Seite an Seite mit der radikalen CGT auf die Straße zu gehen.
LW-Fotograf Laurent Blum hat die Demos vor der Opéra und der Place de la République in Paris besucht. „Es ist recht friedlich für französische Verhältnisse“, so sein Eindruck. Die Stimmung sei leicht angeheizt, viele Rentnerinnen und Rentner seien auf der Straße. Vereinzelt habe er brennende Mülleimer, Böller sowie zu Bruch gehende Fensterscheiben beobachtet. Blums Eindrücke im Kurzvideo:
Auch wenn der Ausgang der Proteste, die am Dienstag wieder Hunderttausende mobilisierten, noch ungewiss ist, haben die Gewerkschaften durch ihren erstmals seit zwölf Jahren wieder geeinten Auftritt bereits gewonnen: 10.000 neue Mitglieder zählt die CFDT, 7.250 die kommunistisch geprägte CGT und 5.000 die drittgrößte Gewerkschaft Force Ouvrière. Das Phänomen ist nicht neu: In Zeiten sozialer Konflikte profitieren die Arbeitnehmervertretungen stets ein bisschen. Eine solche Eintrittswelle habe es aber noch nicht gegeben, sagt der Experte Rémi Bourguignon dem Radiosender RMC. „Das ist ein echter Einzelfall.“
Schwächung durch die Gelbwesten
In den vergangenen Jahren hatten die französischen Gewerkschaften einen starken Mitgliederschwund erlitten: Der Organisationsgrad ging von 20 Prozent in den 1970er-Jahren auf rund acht Prozent zurück und ist damit nur etwa halb so hoch wie in Deutschland. Ein schwerer Schlag waren für CFDT und Co. die Proteste der Gelbwesten im Herbst 2018: Aus dem Nichts heraus fanden sich Menschen in den sozialen Netzwerken zusammen, um gegen die Erhöhung der Ökosteuer auf Benzin zu demonstrieren.
Die Gilets jaunes brachten Macron mit ihren gewaltsamen Protesten tatsächlich zu milliardenschweren Zugeständnissen - zum Beispiel einer Senkung des allgemeinen Sozialbeitrags CSG für Rentner, die die Gewerkschaften lange vergeblich gefordert hatten. Gegen die gelbe Bewegung auf der Straße wirkten die untereinander zerstrittenen „syndicats“ wie Dinosaurier, die zum Aussterben verdammt sind. Zu wenig hatten sie sich um die Gruppen gekümmert, die in Neongelb demonstrierten: Rentner, Alleinerziehende und Arbeitslose.
um weitere Bilder zu sehen.
Ihren letzten großen Erfolg konnten die Arbeitnehmervertretungen 2006 feiern, als sie gemeinsam mit Studierenden und Oppositionsparteien den Verzicht auf den von der konservativen Regierung geplanten Erstanstellungsvertrag durchsetzten. Dieser Vertrag sollte die Rechte junger Menschen in den ersten zwei Berufsjahren beschneiden. Spätere Streiks und Proteste, beispielsweise gegen die Rentenreformen 2010 und 2019 oder gegen die Bahnreform 2018 blieben dagegen ohne Ergebnis.
Gemeinsame Gewerkschaftsfront droht zu bröckeln
Auch diesmal fürchten die Gewerkschaften, dass ihr Widerstand gegen Macrons Rentenpläne verpufft, die im Schnellverfahren in der Nationalversammlung verabschiedet werden sollen. Die CGT drängt deshalb darauf, den Kurs zu verschärfen. Einzelne Branchengewerkschaften scherten bereits aus der Einheitsfront aus und kündigten mehrere Tage dauernde Streiks in Raffinerien und im Bahnverkehr an. Auch eine Dauerblockade des Landes mit immer wieder verlängerbaren Ausständen schließt der Dachverband nicht aus. „Wenn die Regierung nicht hören will, müssen wir einen Gang höher schalten“, kündigte der CGT-Vorsitzende Philippe Martinez am Dienstag an.
Wenn die Regierung nicht hören will, müssen wir einen Gang höher schalten.
Philippe Martinez, CGT-Vorsitzender
Die CGT, deren Mitglieder meist in roten Gewerkschaftswesten demonstrieren, ist für ihre heftigen Protestformen bekannt. So besetzten Gewerkschafterinnen und -Gewerkschafter schon mehrfach Betriebe, nahmen deren Chefs als Geiseln und verbrannten vor den Fabriktoren Reifen. Vor dem ersten Protesttag gegen die Rentenreform im Januar drohten CGT-ler damit, den Wahlkreisvertretungen der Abgeordneten, die das Vorhaben unterstützen, den Strom abzudrehen.
Noch schafft es die CFDT mit ihrer sanften Turnschuhdiplomatie, die Streikbewegung zusammenzuhalten. Doch je länger die Proteste dauern, desto wahrscheinlicher ist es, dass die gemeinsame Gewerkschaftsfront bröckelt.
Folgen Sie uns auf Facebook, Twitter und Instagram und abonnieren Sie unseren Newsletter.
Als Abonnent wissen Sie mehr
In der heutigen schnelllebigen Zeit besteht ein großer Bedarf an zuverlässigen Informationen. Fakten, keine Gerüchte, zugänglich und klar formuliert. Unsere Journalisten halten Sie über die neuesten Nachrichten auf dem Laufenden, stellen politischen Entscheidern kritische Fragen und liefern Ihnen relevante Hintergrundgeschichten.
Als Abonnent haben Sie vollen Zugriff auf alle unsere Artikel, Analysen und Videos. Wählen Sie jetzt das Angebot, das zu Ihnen passt.
