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Frankreichs Terrornacht vor Gericht
International 4 Min. 08.09.2021 Aus unserem online-Archiv
Auftakt für "Jahrhundertprozess" in Paris

Frankreichs Terrornacht vor Gericht

Unmittelbar nach den Terroranschlägen vom 13. November 2015 patrouillieren französische Soldaten in den Straßen von Paris.
Auftakt für "Jahrhundertprozess" in Paris

Frankreichs Terrornacht vor Gericht

Unmittelbar nach den Terroranschlägen vom 13. November 2015 patrouillieren französische Soldaten in den Straßen von Paris.
Foto: AFP
International 4 Min. 08.09.2021 Aus unserem online-Archiv
Auftakt für "Jahrhundertprozess" in Paris

Frankreichs Terrornacht vor Gericht

Am Mittwoch beginnt in Paris der „Jahrhundertprozess“ um die Anschläge des 13. November 2015. Verantworten muss sich auch der einzige überlebende Attentäter Salah Abdeslam.

Von Christine Longin (Paris)

Das Leben von David Fritz Goeppinger besteht aus zwei Teilen. Einen vor dem 13. November 2015 und einen danach. An dem Tag, der alles brutal zerschneidet, geht der damals 23-Jährige eher widerwillig mit einem Freund zum Konzert der Eagles of Death Metal in den Pariser Konzertsaal Bataclan. Was als entspannter Abend beginnt, endet als Albtraum. Ganz nah erlebt der Fotograf, wie einer der Attentäter von der Loge aus mit seiner Kalaschnikow immer wieder auf die Menschen unten im Parkett feuert. „Wie ein Dämon tötet er, schießt seine Waffe leer. Er scheint sich von Leiden und Tod zu nähren“, schreibt Goeppinger in seinem Buch „Un Jour dans notre vie“ („Ein Tag in unserem Leben“).

Hoffen auf Gerechtigkeit

Mehr als 2.100 Tage hat der gebürtige Chilene, der im Alter von vier Jahren nach Frankreich kam, darauf gewartet, dass der Prozess um die furchtbaren Ereignisse endlich beginnt. Ein Schwarz-Weiß-Foto des alten Pariser Justizpalastes, veröffentlicht im Kurznachrichtendienst Twitter, zeugt von seiner Spannung, die am Mittwoch ihren Höhepunkt erreichen dürfte. Dann wird nämlich das Verfahren um die Anschlagserie eröffnet, bei der 130 Menschen starben und mehr als 400 verletzt wurden.

Allein m Bataclan-Theater starben am 13. November 2015 90 Menschen. Insgesamt starben 130 Menschen.
Allein m Bataclan-Theater starben am 13. November 2015 90 Menschen. Insgesamt starben 130 Menschen.
Foto: AFP

Für den „Jahrhundertprozess“ wurde im Palais de Justice extra ein eigener, moderner Saal gebaut. Bänke aus hellem Holz, die Platz für 550 Menschen bieten, eine mit Spezialglas gesicherte Box für die Angeklagten, acht Bildschirme und Lautsprecher für die Übertragung in andere Säle. 330 Anwälte vertreten die Interessen der 1.800 Zivilklägerinnen und -kläger. 542 Bände umfassen die Ermittlungsakten - das dickste Dossier der französischen Justizgeschichte. „Es wird Ströme von Tränen geben, die Leute werden kreischen, da bin ich sicher“, sagt Patricia Correia, die ihre Tochter und deren Lebensgefährten verlor, der Zeitung „Libération“. „Wir werden wochenlang diese Nacht erneut durchleben, in der Paris im Blut stand.“

Wir werden wochenlang diese Nacht erneut durchleben, in der Paris im Blut stand.

Patricia Correia, Angehörige

„Man fragt sich, ob man etwas Irreales erlebt“

Nun erwarten die Angehörigen und Überlebenden, dass das Gericht die Hintergründe dieses nationalen Traumas erhellt: Wer hat die Attentate organisiert, befehligt, ausgeführt? Die Liste der Zeugen ist lang und umfasst auch Persönlichkeiten wie Ex-Präsident François Hollande, der im Fußballstadion Stade de France war, als mitten im Freundschaftsspiel zwischen Deutschland und Frankreich um 21.20 Uhr die erste Bombe explodierte. Die Attentäter zogen danach eine Spur des Todes durch Paris: Mit Autos fuhren sie vor mehrere Cafés und Restaurants, vor denen an dem milden Abend noch viele Menschen auf den Terrassen saßen. 

Nur für diesen Prozess wurde extra ein neuer Saal im Pariser Justizpalast gebaut, der von Journalisten besichtigt wird.
Nur für diesen Prozess wurde extra ein neuer Saal im Pariser Justizpalast gebaut, der von Journalisten besichtigt wird.
Foto: AFP

Wahllos mähten sie sorglose Pariserinnen und Pariser nieder, die bei einem Drink das Wochenende einläuteten. Szenen des Horrors an Orten, die für die Leichtigkeit des Lebens stehen. „Ich erinnere mich an die Telefone, die klingeln und mir jedes Mal noch tragischere, unerträglichere Nachrichten ankündigen. Man fragt sich, ob man die Wirklichkeit erlebt oder etwas Irreales, von dem man wieder erwacht“, beschreibt der damalige Innenminister Bernard Cazeneuve den Abend in einer Netflix-Dokumentation.


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Auch Cazeneuve muss in dem Prozess aussagen. Im November ist er dran, wenige Tage nach Hollande. Die 20 Angeklagten, darunter der einzige überlebende Attentäter Saleh Abdeslam, werden im Januar befragt. Abdeslam schweigt bisher zu dem, was am 13. November 2015 passierte. Nur am Tag nach seiner Festnahme im Frühjahr 2016 in Brüssel gestand er: „Ich habe in Vorbereitung der Anschläge von Paris Autos und Hotelzimmer gemietet. Ich habe das auf die Aufforderung von meinem Bruder Brahim hin gemacht.“ Brahim Abdeslam ist einer der sieben Attentäter, die bei den Anschlägen starben. Entweder, weil sie von der Polizei erschossen wurden oder sich selbst in die Luft sprengten.

Salah Abdeslam gilt als einer der Haupttäter.
Salah Abdeslam gilt als einer der Haupttäter.
Foto: AFP

Salah Abdeslam hatte auch einen Sprengstoffgürtel, der aber nicht explodierte. In einem Brief an seine Schwester schreibt er: „Du sollst wissen, dass wir nur das ungläubige Volk terrorisiert haben, denn Frankreich ist ein Land, das den Islam bekämpft und das seit langem.“ Mit „Wir“ meint er auch seinen Nachbarn im Brüsseler Stadtteil Molenbeek, Abdelhamid Abaaoud. Der Drahtzieher der Anschläge versteckte sich einige Tage in einem Haus im Saint-Denis bei Paris, bevor er dort von der Polizei aufgespürt und erschossen wurde. Die Terrororganisation Islamischer Staat bekannte sich zu den Attentaten.

Extra Saal für Überlebende und Angehörige

„Ihr bombardiert unsere Brüder in Syrien, im Irak. Deshalb sind wir hier“, sagten die beiden Männer, die David Fritz Goeppinger und neun weitere im Bataclan zweieinhalb Stunden lang als Geiseln hielten. 90 Menschen starben, bevor eine Spezialeinheit der Polizei die restlichen der 1.500 Konzertbesucher befreite.


(FILES) In this file photo taken on July 15, 2016 in Nice shows a message reading "I am Nice" placed at a make-shift memorial for victims of the deadly Bastille Day attack in Nice. (Photo by GIUSEPPE CACACE / AFP)
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Wenn der Prozess um die Anschläge beginnt, will Goeppinger so oft wie möglich dabei sein. Im Justizpalast ist extra ein Saal für die Überlebenden und die Angehörigen eingerichtet worden, die auch aus der Ferne über ein Webradio das Verfahren verfolgen können. Psychologen halten sich bereit, um die seelischen Wunden zu versorgen. Der Prozess wird sie wieder aufreißen. Aber vielleicht kann nach neun Monaten voller schrecklicher Erinnerungen und Tränen der Heilungsprozess endlich beginnen.

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